Gesamtansicht Rezensionen
Die Tagebücher von Søren Kierkegaard, die nun in einer Neuausgabe erscheinen – noch in diesem Jahr sollen alle 5 Bände vorliegen – gehören in den Rahmen einer Neuauflage der 1956-1974 erschienenen Gesamtausgabe der Werke im Verlag Eugen Diederichs, der offenbar meint, die finanzielle Verantwortung für dieses Projekt nicht weiter tragen zu können. Das ist auch aus Gründen der Tradition bedauerlich, aber Tradition spielt heute fast keine Rolle mehr; doch daß sich nun ein weit weniger bekannter Verlag entschlossen zeigt, das bedeutende Unternehmen weiterzuführen, verdient weit mehr als floskelhafte Anerkennung ...
Marius Victorinus (281/291 - ca. 365, afrikanischer Abstammung, Rhetor, römischer Senator, seit ca. 356 Anhänger des christlichen Glaubens, nach dem Edikt Kaiser Julians 363 Verlust seiner Ämter), berüchtigt wegen seiner obskuren Diktion, in der er seine erhaltenen philosophiedurchwirkten theologischen Schriften verfaßt hat, ist immer wieder als systematischer Denker präsentiert worden, so etwa von P. Hadot, M. Tardieu und W. Beierwaltes (S. 2f.) ...
Historisch nimmt das Werk des Nikolaus von Kues (1401-1464) eine herausragende Position ein: Es bildet die Schnittstelle zwischen antik/mittelalterlichem und frühneuzeitlichem Denken und ist ein Philosophieren, das bestrebt ist, durch immer wieder neu eruierte göttliche Namen das Wesen der Gottheit in seiner Unbenennbarkeit auf unbenennbare Weise zu benennen und es dadurch sowohl in sich als auch in seinem Bezug zum Anderen seiner selbst zu erkunden, dann das Wesen des menschlichen Geistes in seiner Selbstidentität und als Geflecht von Relationen zu seinem Prinzip und seinen Gegenständen zu ermitteln, schließlich das Wesen des Kosmos zu ergründen. Cusanus verfolgt diese seine Intention in dem Bewußtsein, daß die Vernunft die Wahrheit in ihrer Präzision nur unvollkommen zu erfassen in der Lage ist, gleichwohl aber nichts unversucht lassen soll, sich ihr so weit wie möglich zu nähern ...
Es ist keineswegs eine Übertreibung wenn man behauptet, daß die Schriften der Österreicher Feministin, Soziologin, Philosophin und Kulturkritikerin Rosa Mayreder (1858-1938) heute nahezu völlig in Vergessenheit geraten sind, d.h. wenigstens in den modernen Sozialwissenschaften. Das ist schon eine erstaunliche Entwicklung, wenn man bedenkt, daß Rosa Mayreder zusammen mit Rudolf Goldscheid und einigen anderen 1907 die „Wiener Soziologische Gesellschaft“ begründet hat, und damals viel beachtete Essays und Sozialkritiken zur Lage der Frauen, zum Geschlechterverhältnis, zur Gesundheitspolitik und zum Ausbruch des ersten Weltkriegs geschrieben hat ...
Die vorliegende CD-ROM enthält im Neusatz und im Faksimile den vollständigen Text der “zweyten, vermehrten und verbesserten Ausgabe” des Adelungschen Wörterbuchs, dessen erste Auflage zwischen 1774 und 1786 im Leipziger Verlag Breitkopf & Sohn erschienen war. Es handelt sich dabei um die letzte von Adelung noch selbst besorgte Ausgabe und damit um einen Text, der in der Entwicklungsgeschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hat. Die Idee der digitalen Erfassung des Wörterbuchs entstand 1997 während der Sichtung und Zusammenstellung der digitalen “Basisbibliothek Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka”. Adelungs Wörterbuch schien den Herausgebern, laut Vorwort, “wohl am besten geeignet [...] die dort zusammengetragenen Werke der deutschen Literatur sprachlich zu erschließen” ...
Der Brite an sich verreiste zwar schon im 18. Jahrhundert sehr gerne, aber es dauerte doch eine Weile, nämlich bis zur Vor- und Frühromantik, bis er sein Herz für Deutschland entdeckte und bis dieses Land “in den Kanon der Grand Tour” aufgenommen wurde. Sonderlich schmeichelhaft oder gar gentlemanlike äußerten sich die “Gentlemen auf Reisen” freilich selten, wenn sie in ihren Reisebüchern über ihre unzivilisierten, steifen und trunksüchtigen “German ancestors” berichteten ...
Alexander Wöll greift mit seiner Monographie ein Thema auf, das schon längere Zeit (nicht nur in der slavistischen) Literaturwissenschaft Aufmerksamkeit findet, doch gelingt es ihm, einen entscheidenden Schritt über die bisherigen Arbeiten hinauszutun, da er ein typologisches Modell anbieten kann, das universal anwendbar ist und sich nicht wie die herkömmlichen Ansätze auf die Narratologie beschränken muß. Der Verfasser erreicht dies durch die Bestimmung von “typologischen Invariablen”, die er in überzeugender Weise systematisiert: Er unterscheidet in der Verwendung des Doppelgängermotivs acht “nominale” Bedeutungen, d.h. grundlegende Unterscheidungskategorien, die vom Bewußtseinszustand der mit ihrem Doppelgänger konfrontierten Figur über die Richtung und die Art der Verdoppelung, deren Erscheinungsform, Entstehung und Auswirkung bis hin zu ihren variablen Kristallisationsorten, ihrer Motivierung und zum Gender-Aspekt der Doppelgängerei reichen ...
Die Arbeit von Dennison, ein von der äußeren Erscheinung her schönes, schmales Buch, liefert für das Aufkommen der Vampirliteratur im frühen 19. Jahrhundert eine epistemologische Begründung: “the popularity of the vampire as a major figure in the arts coincides with the advent of entropy physics”. Der Vampir stellt insofern eine angemessene Metapher für das offene Weltbild der modernen Physik dar, als er dessen schrankenlose Dynamik verbildlicht: “the vampire is a natural trope for entropy [...] because it is subversive, perverse, alienated, even evil, turning holy rite by parody to blasphemy.” Da die explizite Formulierung der Lehre von der Entropie erst in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts erfolgt (durch Rudolf Clausius in Berlin), müssen die davor auftretenden Vampire als Ankündigung, gleichsam als künstlerischer Vorschein dieses wissenschaftlichen Durchbruchs verstanden werden ...
Die vorliegende Studie stellt eine wirkliche Bereicherung für die feministische Literaturwissenschaft dar – und dies gleich in dreierlei Hinsicht. Erstens stellt sie die für Feminismus und Gender Studies gleichermaßen wichtige Frage danach, ob es eine spezifisch weibliche Identität gibt, d.h. “ob und in welcher Weise das Geschlecht ein Faktor ist, der die Selbstdefinition des Individuums beeinflußt”. Auf der Grundlage verschiedener sozialpsychologischer, psychoanalytischer und feministischer Ansätze zur Konzeptualisierung einer weiblichen Identität wird im Theorieteil eine Referenzfolie entworfen, die die differenzierte Untersuchung weiblicher Identitätskonstruktionen in literarischen Texten erlaubt ...
“Brot und Boden”: mit diesen zweideutigen Epitheta hat ein Spiegel-Redakteur im Jahr 1961 einmal das literarische Schaffen Heinrich Bölls umrissen. Böll schreibe “realistisch, aber nicht zu kraß” sowie “stets recht gefühlvoll”. Auch heute noch ist es eher Bölls Rolle als unbestechlicher Moralist und kritischer Chronist der Nachkriegszeit, die das Bild als Schriftsteller bestimmt, und nicht etwa eine besondere ästhetische Vorreiterrolle. Mit ihrer Studie zur Intertextualität im Werk Bölls hat die Wuppertaler Germanistin Christine Hummel es nun unternommen, die Prosa des “guten Menschen von Köln” im kulturellen Horizont seiner Zeit zu verorten und das bestehende “(Vor-)Urteil mangelnder Literarizität” zu überprüfen ...