Mehr als sein Vorurteil
“Brot und Boden”: mit diesen zweideutigen Epitheta hat ein Spiegel-Redakteur im Jahr 1961 einmal das literarische Schaffen Heinrich Bölls umrissen. Böll schreibe “realistisch, aber nicht zu kraß” sowie “stets recht gefühlvoll”. Auch heute noch ist es eher Bölls Rolle als unbestechlicher Moralist und kritischer Chronist der Nachkriegszeit, die das Bild als Schriftsteller bestimmt, und nicht etwa eine besondere ästhetische Vorreiterrolle. Mit ihrer Studie zur Intertextualität im Werk Bölls hat die Wuppertaler Germanistin Christine Hummel es nun unternommen, die Prosa des “guten Menschen von Köln” im kulturellen Horizont seiner Zeit zu verorten und das bestehende “(Vor-)Urteil mangelnder Literarizität” zu überprüfen. Dabei beschränkt Hummel Intertextualität begrifflich nicht auf das literarische System, sondern bezieht intermedialen Transfer aus den Bereichen Kunst, Film und Musik ausdrücklich mit ein. Parallel zu den Entwicklungsphasen der fiktionalen Prosa untersucht Hummel dazu auch Bölls Tätigkeit als Rezensent und Übersetzer. Durch den Einbezug nicht-fiktionaler Texte soll nicht nur die enge Zugehörigkeit von Rezensionen und Essays zum “Fortschreibungsprozeß” des Gesamtwerks gezeigt werden. Mit dem Blick auf den Autor als Literaturrezipienten kann Hummel eindrucksvoll die werkbiographische Entwicklung als eine sich gegenseitig verstärkende Wechselwirkung zwischen Lese- und Schreibprozeß darstellen. Umfang und Intensität intertextueller Effekte, das zeigt die synoptische Analyse von Rezensionen, Essays und fiktionaler Prosa, nehmen seit den fünfziger Jahren mit fortschreitender Lektüre englischer, französischer und bald auch russischer Autoren stetig zu. Benutzt Böll zunächst Anspielungen auf literarische Texte sowie auf Musik und Film nur zur Charakterisierung des Romanpersonals, so übernehmen intertextuelle Referenzen bald tektonische Funktion. Die auf Intertextualität aufbauende Leitmotivik wie auch die Zeitstruktur in Billard um halbzehn (1959) stellt Hummel in den literar- und gattungsgeschichtlichen Kontext von Thomas Manns Zauberberg und William Faulkners A Fable. Auch intermediale Bezüge haben bereits im Frühwerk wichtigen Stellenwert. So erweist sich etwa Haus ohne Hüter (1954) auf allen Ebenen geprägt durch formale Systemreferenzen auf das Medium Film. Bölls opus magnum der frühen siebziger Jahre, Gruppenbild mit Dame, stellt Hummel in philologischer Feinarbeit dagegen als eigenwilligen Kommentar zur zeitgenössischen Mode des Dokumentarischen dar. In dem der Autor “einerseits authentisches Material als Fiktion” ausgebe und andererseits “fingierte Dokumente als Fakten” deklariere, inszeniere er ein “variationsreiches intertextuelles Verwirrspiel”. Hummels methodisch klug angelegte Analyse zeigt nicht nur, daß Bölls Werk weitaus anspielungsreicher ist, als bisher angenommen wurde. Die beispielhafte Untersuchung der Funktions- und Leistungsfähigkeit von Intertextualität weist auch überzeugend nach, daß die Romanprosa des “guten Menschen von Köln” den Vergleich mit Alfred Andersch, Günter Grass oder Wolfgang Koeppen keinesfalls zu scheuen braucht. Der Verzicht auf formale Experimente an der Textoberfläche ist weniger als Defizit zu deuten denn als Ausweis berechtigten Selbst- und Stilbewußtseins – Böll bietet mehr als “Brot und Boden”.