Eine Landkarte ist nicht die Landschaft
Ebenso bei Texten : Ein Wort ist nicht die Sache, die es bezeichnet. Wortsinn und vom Autor gemeinter Sinn sind nicht dasselbe. Das ist zunächst nichts Neues. Seit der Aufklärung ist der kritische Umgang mit Bibeltexten selbstverständlich. Was Schweizers Arbeit in diesem Strom kennzeichnet, ist sein genaues Studium des Wortsinns, Wortlauts, der poetischen Bilder, inkonsistenter Implikationen, sprachlicher Künstlichkeiten,usw. Dabei grenzt er sich deutlich von einer liberalen Methode ab, zu schnell in freischwebenden, modernen Ausdeutungen zu fragen: was sagt uns dies?, ehe der Ausgangstext ausreichend zur Kenntnis genommen ist und dies nicht nur grammatikalisch, sondern auch als Bestandteil einer Kommunikation zwischen Sender und Empfänger. Mit den Erkenntnissen textorientierter Sprachwissenschaft fragt Schweizer nach der Motivation des Autors, einen Text sprachlich so zu gestalten, wie er es tat, und danach, was solche Texte in den unterschiedlichen Lesesubjekten bewirken und wie diese in vorgegebenen Rahmenkonstruktionen - Weltanschauungen, Ideologien, Dogmatiken – verortet sind. Bei jedem Text ist die Frage nach beteiligten Innenwelten zu stellen, soweit sie aus der grammatischen Terminologie erschlossen werden können. Schweizer greift zurück auf die Kategorien von Bewusstem und Unbewusstem, die für jede Kommunikation konstitutiv sind. Wahrheit entsteht im Kontext von Kommunikation, intersubjektiv, nicht ontologisch. Sie wird folglich nicht durch ein objektives Faktum abgesichert. Das spannendste Kapitel ist das, wo Schweizer diese Erkenntnis auch auf seine Rede von Gott bezieht. „Was jenseits wäre, erscheint in den Materialien und Kategorien drinnen“, dieser Satz Adornos aus der Negativen Dialektik ist ein Ansatzpunkt seiner Überlegungen. Dem Vorwurf und der Gefahr unzulässiger Psychologisierung begegnet er mit der genauen Rekonstruktion der sprachlichen Redeverfahren.
Manche Ergebnisse überraschen nicht, weil sie auch anderwärts längst beobachtet sind ( z.B. Interesse von Gen.1; Luk.10,25ff.), bei anderen ergeben sich verblüffend neue Aspekte aus der Sprachanalyse ( z.B. Gen.18; Josefsgeschichte).
Das Buch ist erwachsen aus einer elfteiligen Vorlesung (SoSe 1991) im Studium generale in Tübingen zum Thema: Kritik religiöser Sprache. Die Beispiele nimmt Schweizer vor allem aus der Bibel, aus katholischer und evangelischer Theologie sowie aus dem Judentum. Seine Kritik gilt wissenschaftlichen Dogmatiken und Religionsinstitutionen, Es geht um die in Sprache verborgene Macht, so wie die Nominalisten des ausgehenden Mittelalters Sprache als Herrschaftsinstrument der damaligen Kirche kritisierten. Seine Adressaten sind andererseits unmündig gehaltene Menschen, die die religiöse Sprache nicht mehr verstehen und denen er Wege aus der Ghettoisierung kirchlicher Sprache aufzeigen will.
Die begriffliche Trennung von Religion im Sinn von Religiosität auf der einen Seite und Institution auf der andern durchziehen das Buch. Unter Religion im Sinn von Religiosität versteht Schweizer eine bestimmte Sprechweise, verbunden mit dem Wunsch, durch Benutzung bestimmter Sprachbilder das tägliche Leben von Innen heraus zu gestalten, die eigene Seele zu integrieren, unabhängig von vorstrukturierten sozialen Realisierungsformen. Für ihn stellt sich die Frage, ob eine Institution für das Ausleben einer solchen Religiosität hinderlich oder förderlich ist.
Es ist ein leidenschaftliches, lebendiges Buch, das so geschrieben ist, dass es in seinen essayhaften Kapiteln weithin auch ohne akademische Vorbildung verstehbar ist und fasziniert. Es könnte eine heute dringend notwendige Lücke schließen zwischen wissenschaftlicher Theologie und Gemeinden, zwischen religiösen Menschen außerhalb der Institution Kirche und kirchlicher Sprache.
In methodischer Hinsicht ist es eine wichtige Ergänzung zu sozialgeschichtlicher Bibelauslegung. Leider fehlt ein Register für die behandelten Bibelstellen.
Prof.Dr.Harald Schweizer ist von Hause aus Alttestamentler, und arbeitet jetzt als Sprach-und Textwissenschaftler an der Universität Tübingen.