Ideen- und Wertewelt des Judentums
Eine psychoanalytische Sicht

Ein gelehrtes Buch! Es ist erwachsen aus Vorträgen, Symposien, Gesprächen. Daher erklärt sich sein Charakter nicht scharf voneinander abgegrenzter Kapitel, breiter Passagen zur Kulturgeschichte des Judentums und Wiederholungen. Grundlagen seiner Analysen sind dem Verfasser die biblische und rabbinische Literatur, die Mystik des Mittelalters und moderne jüdische Kommentatoren. Der gedankliche Leitfaden, der das ganze Buch durchzieht und zusammenhält, ist der psychoanalytische Ausgangspunkt des Denkens in Gegensätzen, in Konflikten und Komplementaritäten und das Interesse, Gemeinsamkeiten zwischen Judentum und Psychoanalyse aufzuzeigen. 'Judentum und Psychoanalyse sind auch tief vereint im Kernwissen um Konflikt - Konflikt zwischen Werten und Ideen, Konflikt zwischen Deutungen, der Doppelheit des Verstehens' (S. 109). Die Doppelheit der Wahrheit, deren Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, bedeutet 'nicht nur Widerspruch, sondern auch gegenseitige Ergänzung, nicht nur Konflikt, sondern Komplementarität in beiden, dem psychoanalytischen und dem jüdischen Verstehen von Mensch, Gesellschaft und Welt' (ebd.). Das Besondere und Spannende an Wurmsers Buch ist sein Versuch, die psychoanalytisch therapeutische Zugangsweise über innere Konflikte auch auf gesellschaftlich-kulturelle Bereiche anzuwenden, speziell auf das Judentum. Er hofft, daß durch besseren Einblick in die vielen fremdartige Welt der jüdischen Religion und der unaufhebbaren inneren Spannungen in ihr Vorurteile, Hass, zurückschreckendes Nichtwissen und Nichtverstehen verringert werden könnten. 'Das Loch des Nichtwissens ist ... die Eintrittstür für Mißverständnisse, und damit für Vorurteil, und dann Entwertung. Am Ende steht dann die Entmenschlichung' (S. 38). Der Holocaust und seine emotionale und intellektuelle Bearbeitung bildet den Hintergrund zu allem, 'was in mir geschieht, zu allem, was ich denke, was ich fühle, was ich schaffe - kurzum, zu allem, was ich bin' (S. 30).
Psychoanalyse und Judentum leben im Suchen des verborgenen und oft in sich selbst vieldeutigen Sinns des Wortes. An der jüdischen Geschichte zeigt Wurmser, wie sich in der jüdischen Kultur eine Verinnerlichung des Daseins vollzog. Mit dem Verlust von Tempel, Staat, Land wurde die religiöse Heimat das geschriebene Wort, wurde der Talmud zum tragbaren Staat, der Opferdienst zum Gebetbuch. Diese 'tragische Verwandlung' (S.129) des Heiligen vom heiligen Ort in das Wort ermöglichte das Überdauern jüdischer Identität und ließ eine Kultur der Ausdeutung, des Lehrens und Lernens wachsen. - Hier zeigt sich eine weitere Ähnlichkeit zwischen Psychoanalyse und jüdischem Denken: Talmudische Diskussionen sind unabgeschlossen, prinzipiell offen, Gegensätze werden stehengelassen, in dem Bewusstsein der Vielschichtigkeit der seelischen und sozialen Wirklichkeit wie auch der biblischen Texte. Teil der jüdischen Identität ist das tiefe Wissen um die Widersprüchlichkeit der Wahrheit und die dialektische Auseinandersetzung des ständigen Infragestellens, um sich der Wahrheit anzunähern. Wurmser sieht hier enge Wesensverbundenheit zur psychoanalytischen Methode, den verschiedenen Bedeutungsperspektiven in Oberfläche und Tiefe, in Bewusstheit und Unbewußtheit. Die Seele ist eine Welt der unaufhebbaren Gegensätze, nur die Vielzahl der Ausdeutungen, die Vertiefung des Fragens können den psychoanalytischen Prozess vorantreiben. Erstaunlich ähnlich dem psychoanalytischen Denken ist der Vorrang des je Eigenen, Persönlichen vor dem Allgemeinen in den talmudischen Argumentationen, die nicht auf abstrakte ethische Kategorien, sondern auf konkrete Einzelfälle, Geschichten, Individuen zielen. Eine ganz hervorragende Stellung in der Ethik des Talmud nimmt die Vermeidung der Demütigung des Anderen ein. Die Person eines Anderen durch Beschämen zu verletzen, ist ein Verbrechen.
Eine andere Antwort, wie die rechtlich-ethische im Talmud, auf Traumatisierungen geschichtlicher Katastrophen sieht Wurmser in der jüdischen Mystik, eine 'magische Verwandlung' (S. 129) vom Tempeldienst zu verinnerlichter, visionärer Schau der göttlichen Geheimnisse. Das Konzept des Konflikts, das in der Dialektik des Talmud bestimmend ist, wird zu einer metaphysischen Bewegung in Gott. Wie die Seele vielfältig ist und in Gegensätzen erfasst wird, so gilt das auch für das Gottesbild, was z.B. in der Kabbala der Grundgegensatz zwischen der Verborgenheit Gottes und seiner Wissbarkeit zeigt.
Wurmsers Buch ist eine Fundgrube für jüdisches Denken, wenn auch manche Schlussfolgerung des Verfassers einer Nichtjüdin verschlossen bleibt. Da christliche Religion unabdingbar ihre Wurzeln in der jüdischen hat, ist das Buch nicht nur hilfreich, Vorurteile gegenüber dem Judentum abzubauen, sondern auch die eigene Identität besser zu verstehen.
Dr. med. Léon Wurmser ist Professor für Psychiatrie und Psychoanalyse an der University of West Virginia, Psychoanalytiker in eigener Praxis in Towson/Maryland sowie Lehr- und Kontrollanalytiker der Freudian Society in New York.