Exzeptionelle, nämlich familiäre Gründe der Autorin bestimmen das Schreibmotiv, Stoffspezifik sowie die Wahl des Schauplatzes: sieben Generationen ihrer Verwandtschaft haben 158 Jahre in Brestowatz (Szilberek, Brestowac, Ulmenau; nunmehr Backi Brestowac) verbracht. Die Lebensvollzüge anderer Dorfwelten der Batschka (Karte, S. 20) werden einander geähnelt haben. Beim Verfolg der manifesten (nachweisbaren) und latenten (imaginierten) Spuren ihres persönlich fokussierten ‚Mikrokosmos Brestowatz‘ thematisiert sie die zahlreichen, für ein Insgesamt der Region (und über diese hinaus) ins Gewicht fallenden Effekte dieser Dorfkollektive gleich mit; sie konturiert dabei eine mittlerweile sich verflüchtigt habende, ‚atlantisch‘ gewordene Sozialarchitektur. Im Bemühen, genannten ‚Kontinenten‘ von ehedem ein lebendiges Profil zu geben, verfährt sie chronologisch innerhalb der Eckdaten der beiden Translokationen: einmal aus den deutschen (Kern-)Landen, und in diese wieder zurück.
Voran stellt sie die Darstellungsprinzipien: ihre Arbeitsgrundlagen, die Form; begleitende Nöte, Absichten und Motive. Den Kern stellt dabei die akute Phase der die bisherige Existenz basal wendenden Ereignisse dar, in der „der Begriff Heimat“ als „gekippt“ erschien, derart, wie wenn sich „an der Donau die Wege der Flüchtlinge und die der einstigen Ansiedler kreuzen“ würden (S. 33, 32). 1945 markiert den Bruch. Die Verfasserin wurde 1947 in Hessen geboren. Obwohl sie Fotografien, Dokumente, Archivmaterial, „einschlägige Literatur“ (S. 72), Kartographien zu Rate zieht (die Anfügung von Chronik und Stammbäumen der maßgeblichen Familien Bovier und Werny eignet sich zur Klärung der verwirrenden Verhältnisse), will sie darüber hinaus „Einblicke ermöglich[en], die in kein Geschichtsbuch eingeflossen sind“ (S. 10). Der Not, dem „Chaos“ eines „Kaleidoskop[s]“ ausgesetzt, konfrontiert mit einem „bunte[n] Gemisch von Räumen, Stimmen, Farben und Eindrücken“ (S. 24), allem, was ihr mannigfach gerüchteweise vermittelt wurde, sucht sie die Tugend einer durchpulst lebendigen Darstellung abzugewinnen. Die „Fäden“, die die Autorin nun „verknüpf[t]“ (S. 10), reflektieren gleichfalls die eigenen ‚adaptierenden Identifikationen’ mit den ihr zugetragenen Gerüchten aus ihrer Frühkindheit (vgl. S. 71).
Priorität besitzt der „Prozess des Verstehens“ (S. 10), unter Anlehnung des Verstehens der Dorfgemeinschaft an das der Autorin: sie schlussfolgert individuell (vgl. S. 15), ihre „Fantasie ersetzt“ (S. 17) Interpretationslücken bei vorliegendem Quellenmaterial, ihre Fantasie „malt sich aus“ (S. 76). Dabei präpariert sie ein „gleiches Strickmuster“ (S. 112) sozialen Lebens, ein Raster heraus; auf diese Weise eine Hermetik, die deren Funktion, gemeinschaftliche Konsistenz und Kohärenz, das ‚Derhom‘ zu fabrizieren, begreifbar macht. Besonders eindringlich dort, wo entgegen rein emotional-erotischer Begehrlichkeiten die Logik von Besitzverhältnissen rigide durchgesetzt wird (vgl. S. 105). In Summe kennzeichnet ein Belassen-, Übriggelassen-, ein Für-sich-Sein die Situation des Sozialgefüges viel eher als eine Bedrängung unter der Regierung Jugoslawiens. So werden dann unter ungarischer Dominanz serbische Absiedlungen kaum empathisch mit dem kursierenden Urteil belegt: ‚Das haben sie nun davon, dass sie nicht zu Ungarn gehören wollten!‘ (S. 84; die bloß methodisch-strategische Anverwandlung markiert Bovier durch Kursivdruck).
Die Große Politik grundiert das Geschehen, sie läuft mit; die Fotos zweier Verwandter im Militärdienst zweier Regime werden deshalb bloß präsentiert, rein sachlich kommentiert. Auch der Waffen-SS-Mitgliedschaft fügt sie ohne weiteres die Kollektivmeinung, allerdings in bezeichnender Voranstellung, hinzu: „Die Frauen wollen keine Feiglinge an ihrer Seite. Auch ihre Männer sollen ihr Deutschtum unter Beweis stellen.“ (S. 146) Überhaupt prägt das mit der Ansiedlung, der Verschickung grundgelegte Selbstverständnis von Auserwählung die Gruppe. Folglich geht für sie, als lebende Figuren ‚deutschen Volkstums‘, die „Angst“ um, „nach dem Endsieg [= des Dritten Reichs; P.R.K.] nicht zu den Privilegierten zu gehören“ (S. 152). Nur 26 Seiten befassen sich mit dem ‚Neubeginn‘: „starre Verhaltensregeln und enge Denkstrukturen“ (S. 189) wirken, laut Gedächtnis der Autorin, lange nach, bei einer zersprengten Gruppe, welche „in großer Geschlossenheit dauerhaft und hartnäckig“ (S. 159) die Unschuldsvermutung bezüglich von Untaten sich wechselseitig beglaubigt.
Knapp und lakonisch beurteilt die Autorin anlässlich ihrer persönlichen Besuche, 1968 und 1989, Backi Brestowac als „ein verwahrlostes Dorf“ (S. 190), ein Eindruck, der sich nur graduell ändert mithilfe von Rücküberweisungen durch Bewohnern aus der Migration. Nun sind in der Kirche „die Innenwände, die Fresken aufgefrischt worden“ (S. 192). Eine solche Freskenauffrischung, ein Mosaik, das fragmentarische Arrangement eines Puzzles, stellt vorliegendes Projekt dar, indem Bovier kasuistisch, weniger exemplarisch und nicht typologisch vorgeht. So wird die Leserschaft absichtlich alleingelassen bei Fragen wie: Waren diese verstreuten Dorfkollektive eher Enklaven oder Exklaven? – Ist das fotografierte Mädchen am Frontispiz des Buches umstellt oder geborgen durch die Sitzgruppe der Älteren im Halbkreis? – In welchem Sinne ist es oder wird ‚umfasst‘? Der Begriff ‚Schicksal‘ im Untertitel des Buches deutet auf ein verlegerisches Kalkül hin. Denn die ursprünglich mit einer Aufgabe Verschickten erweisen sich als sehr geschickt in deren sich fortsetzenden Bewährung darin, durch ihre Behauptung. – Und auch ihr finaler Weggang aus der Batschka wirkt weniger als ein Fatum, eine Fatalität; war doch ihre (exquisite) Zugehörigkeit Voraussetzung, und just diese stand stets außer jeglichen Zweifels.
Im Literaturdickicht zum Thema ‚Vertreibung‘ kann Boviers Arbeit Vorbildcharakter beanspruchen: Historisierung, also (in diesem Fall auch eigenes) Vergangenes als ‚erledigt‘ betrachten zu können, gelingt besonders, wenn man sich der Erinnerungen, von Fakten und Imaginationen, auf solche Weise entledigt, indem man sie birgt.