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Die Republik (Deutsch-)Österreich im ersten Nachkriegsjahrzehnt - WLA-Online - Wissenschaftlicher Literaturanzeiger
Die Republik (Deutsch-)Österreich im ersten Nachkriegsjahrzehnt
Innen- und Außenperspektiven

Vorliegendes Sammelwerk ruft die außerordentliche Jugendlichkeit, ja beinahe Kindheit dieser Staatsformation in Erinnerung, was angesichts des ganz ausgesprochenen Missklangs, der international gestreut sich mit dem Komplex: ‚Österreich 1938‘ (seitdem) unsäglich verquickt, nicht überflüssig. Weshalb der abgezirkelte Beobachtungszeitraum vorliegenden Bandes evident zu halten wäre!

Absichtlich vermeidet das Team der Beiträge eine Perspektive ‚ex post‘. Es lässt die Anstrengungen von Staatsträgern und Volk bei der Abwicklung des ‚Alten‘, vor allem der Auswicklung dieses ‚neuen‘ Gebildes in seiner adoleszenten Phase nicht folgerichtig auf das genannte ‚anno crudele‘, dem ‚Anschluss‘ an das ‚Deutsche Reich‘ samt Folgen zulaufen. Die um einen Neuanfang bemühten Personen werden hier nicht als Opfer präsentiert, wohl aber als deklarierte und dekretierte Verlierer des Krieges. Ein Wohlwollen der Sieger gab es dort, wo eine Belebung dieses Anfangsstaates zu einer, möglichst durch sie erwünschten und kontrollierten, Selbständigkeit protegiert wurde.

Die Siegermächte intervenierten in Bezug auf Deutschland (‚Anschlussverbot‘), setzten sich aber, um die Ernährung (Wiens) zu gewährleisten, für den Anschluss der dann ‚Burgenland‘ genannten Region ein: als neuntes Bundesland wurde ‚Deutschwestungarn‘ dem Verlierer Ungarn, nicht ohne Gegenwehr, ausgegliedert. Im Falle Kärntens wurde, nach bewaffneter Gegenwehr der Bewohnerschaft, vereitelt, dass das ‚Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen‘ (SHS) nicht zu viel nach Norden ausgriff. Gar nicht so sehr die spektakulären, eher die wenig bekannten Problemzonen und Fälle zur allmählichen Staatskonsolidierung sind hier zentral, bevorzugt jene, bei denen Österreich zu Verhandlungen, und dabei ‚Dauerkonzessionen‘ genötigt war.

Die ‚Außenperspektiven‘ im Untertitel meinen die Interessenswahrungen der Sieger, also Frankreichs, Großbritanniens, Italiens, des SHS-Staates, der USA, Japans, nicht zuletzt die nun benachbarte Tschechoslowakei. Die österreichischen ‚Innenperspektiven‘ beziehen sich auf die Grenzziehungen, die Sozialpolitik und Wirtschaftsverhältnisse, die Restituierung der katholischen und protestantischen Kirchengemeinschaften. Das Team schöpft, neben jeweiliger eigener Expertise und Forschungsliteratur, vielfach aus politischen und diplomatischen Quellen in den Originalsprachen. So lassen sich etwa drei Arten von (Aus)Wirkungen auf die Anfangsrepublik, der ‚Funktion Österreich‘ im Zuge aller Verfügungen, Gewaltereignisse und Ausverhandlungen erkennen:

  1. Die Siegermächte haben sich Österreichs bedient.

Dabei konnten alte Rechnungen beglichen werden: die Rivalität Frankreichs mit dem kaiserlichen Österreich (18., Anfang 19. Jahrhundert); jene der ‚Tschechen‘ mit den ‚Deutschen‘; der auszuspielende Triumph der „delenda Austria“ (vgl. S. 187), als weitere ideale Basis für die ‚unità di italia‘. Der Unterschied bei den kommunizierenden Gefäßen zur Staatsfindung Österreichs glich dem zwischen einer Tonne und einem Becher. Österreich war demzufolge verboten oder für es wurde hintertrieben was den Siegermächten erlaubt und diese hingegen betrieben. Manipulatives Hauptziel war die Verhinderung einer Stärkung Deutschlands (vgl. S. 85); und dies sehr wohl aus dem Wissen zeitüblichen nationalen Denkens heraus, wie die britische Quelle zeigt:“‘We cannot exterminate the Austrian Germans; we cannot make them cease to feel German.‘“ (S. 119). Nationale(-Ethnische) Verbände, verstärkt durch alliierte Truppen, sicherten die territorialen Besitznahmen in den nun Nachbarschaftsgebieten ab. Angesichts dessen resignierte Österreich alsbald: außer in den bekannten Fällen (Südtirol, Südsteiermark), sind es die zwei Gebiete, wo in Niederösterreich an die ČSR sowie das Kanaltal (Kärnten,Tirol) an Italien abgetreten werden musste.

  1. Die Siegermächte haben sich an Österreich bedient.

Zum einen galt es, Domänen der Donaumonarchie endgültig zu enterben, zugleich, zumindest in Ansätzen und Umrissen, das Habsburgerreich zu beerben. Dabei sollte Österreich, schon rücksichtlich der neuen Grenzziehungen, auch auf jede politisch maßgebliche Rolle verzichten. Die Republik hatte sich außerhalb der unter französischer Ägide stehenden ‚Kleinen Entente‘ (ČSR, SHS-Staat, Rumänien) zu befinden; gegenüber Italien einer „Habsburgerrestauration und den Eintritt in eine wie immer gestaltete Donaukonföderation“ (S. 205) zu entsagen.

  1. Österreich wurde (letztlich) gedient.

Schon das Oktroy des Staatsnamens ‚Österreich‘ (statt ‚Deutsch-Österreich‘) nötigte zur Erinnerung, dass das in Frage stehende Konglomerat von ‚Ländern‘ schon lange nur eine (nebu)lose Gemeinschaft mit den Ländern Deutschlands gebildet hatte. Folglich musste 1918 die Bewohnerschaft eigene Kräfte mobilisieren, was sie auch mit der Bildung eines ‚Bundesstaates‘ aus der Verfasstheit der ehemaligen Kronländer heraus unmittelbar bei und nach Kriegsende realpolitisch unter Dach und Fach brachte. In für sich sprechender Weise, hatten die Schweiz in Bezug auf Vorarlberg und auch Deutschland, hinsichtlich Tirols und Salzburgs, Vereinigungswünsche abgeschlagen. Politisch und ökonomisch stand Österreich unter Aufsicht. Zur Verständigung bot sich vorzugsweise justament der Hauptfeind des Krieges, Italien, an (vgl. S. 201), durchaus mit entsprechendem Versöhnungseffekt. Die erwünschten Resultate der dringlich gefragten ‚Genfer Anleihe‘ des Völkerbundes (1922) überwachten die Siegerstaaten als Gläubiger; wobei „der Vorbehalt des Generalpfandrechts am gesamten Staatsvermögen“ (S. 230) auf dem Genick wirtschaftlicher Erholung lastete. Österreich hatte als erster „der Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie […] eine Hyperinflation“ (S. 250) zu bewältigen. Trotzdem, ja gerade deswegen wurden durch die ‚Sozialdemokratische Partei‘ in „Fortschreibung programmatischer Leitlinien der Jahre vor 1914“ „Reformschritte“ gesetzt, die „Österreich kurzfristig als Sozialstaat an die erste Stelle in Europa rückt[e]“ (S. 267).

Vorliegende Abhandlungen wollen zur Kenntnis bringen, dass Österreich sich in diesem Jahrzehnt nicht ‚auf einem Crashkurs‘, in Richtung eines ‚failed state‘ befand, sondern sich ‚unter‘ einem sowohl nationalen wie dominanten internationalen Rahmenprogramm zu entwickeln hatte, das Konsolidierung zu stiften (be)schwerlich geeignet war. Motive zu einem, auch hausgemachten, großen Unmut der Menschen lassen sich durch die Beschreibungen der Umstände in diesen Beiträgen zuhauf denken, wenn etwa darauf hingewiesen wird, dass angesichts drückender sozialer Härten die „Alternative“ „eine[r] gleichmäßigere[n] Belastung aller Bevölkerungsschichten“ „möglich gewesen wäre“ (S. 252).

Die krasse Manifestation von sozial brodelnden Spannungen aufgrund von Uneinigkeit, wie sie im ‚Justizpalastbrand‘ von 1927 zum Ausbruch kam, wird ausgespart. Zu sehr hätte dieses international aufschreckende Ereignis bei der Behandlung die These des Sammelbandes gestört, dass im ‚ersten Nachkriegsjahrzehnt‘ die Menschen im Kleinstaat Österreich eigentlich das Bild einer Gefügigkeit abgeben. Untermauert wird die These mit der Darlegung und Analyse der ‚auf‘ und ‚in‘ Österreich wirkenden Pressionen.

Fazit dieser Darstellung könnte lauten: eine Zeit dürftiger ‚Angebote‘, aber wuchtiger ‚Gebote‘.