Dem Ort, „wo [im 8. Jahrhundert; P.R.K.] fester Boden von beiden Seiten bis zum unmittelbaren Flussufer reicht“ (S. 9), und deshalb eine Festung, als Verkehrsnotenpunkt, zu errichten empfahl, widmen sich zwei aktuell ortsansässige universitäre Historiker. Wohl einem breiten Publikum zugedacht, etwa illustriert mit Stadtplänen, Fotos von Gegenüberstellungen eines Zustands einst und heute, Zitaten aus historischen Quellen, basierend auf Forschungsergebnissen, werden die chronologisch geordneten Hintergründe unterbreitet. Als eine Art Reiseführer rollen für die Leserschaft die Aufbrüche, Abbrüche, Wiederaufnahmen ab, die Vergangenheitsfolien von mittlerweile unsichtbaren, nur noch in Fragmenten oder Restituierungen erhaltenen Zeugnissen.
Ohne vorliegender Darstellung bliebe bestenfalls erahnbar, was an Charakteristika diese Stadt, in erlernter Weise, ausmacht: 1. Zerstörungen und Revitalisierungen; 2. Fremdbestimmung; 3. topographisches Dazwischen-Sein; 4. der Kommerz als konstitutiver Faktor; daraus 5. ein Umschlagshafen diverser, kontroverser Einflüsse; daraus 6. die Dimension von Bildung; daraus 7. ein Ort positiver Erwartungen. – Dem Gegenmittel, die vielfach enttäuschten Hoffnungen zu verkraften mithilfe einer spezifischen Ironie, verleihen die beiden Autoren ganz persönlich Ausdruck.
Das estnische Ethnos bleibt unausgesetzt in der Mehrheit; providenziell war in Tartu (vermutlich von „tarvas“/‘Auerochse‘) am Emajögi („Mutter-Fluss“; S. 11) zumeist wenig.
- Zu Livland gehörend, ab 1917 zu Estland, wurde Tartu in Jahrhundertabständen durch großes ‚Kriegstheater‘, zudem durch Brände bis an die Grundfesten in Mitleidenschaft gezogen. Von einem manchmal ‚Grand Zero‘ aus, längeren Phasen von (Ver-)Wüstungen, belegen die Resultate der Neubelebungen Haltungen besonderer Hartnäckigkeit und Resilienz von Ansässigen und Zuzüglern.
- Stadt und Großraum riefen immer wieder Ansprüche von benachbarten, stärkeren Kulturformationen auf den Plan, deren Waffeneinsätze samt Ergebnissen über jede Entscheidung der Mehrheitsbevölkerung hinweggingen; Tartu war dann stets „Frontstadt“ (S. 177).
- Zu diesen gravierenden Unterbrechungen einer durchaus auch kontinuierlichen Entwicklung gesellt sich der Stadtstatus als bloß regionales Zentrum, allerdings mit einer von weit dorthin strahlender Einwirkung. Die Menschen brauchten sich selbst kaum zu genügen. Tartu war, so wie eine Mitte zwischen der Poststraße über Riga nach St. Petersburg, „für viele Reisende“ ein „Zwischenaufenthalt“ (S. 98); so auch der Lebensmittelpunkt zunächst Fremder für längere Zeit (oder überhaupt): eine Stadt in der Mitte von anderswo.
- Der Kommerz als die ursprüngliche Basisfunktion zeigte sich in der eminenten Rolle des Fernhandels, was den Ort so besonders attraktiv machte. Der Handel ebnete tendenziell auch soziale und kulturelle Unterschiede ein. Dies galt auch für das nähere Umland, denn die politisch maßgebenden „städtischen Kaufleute hatten feste bäuerliche Partner“ (S. 36), ‚söber‘/‘Freund‘ genannt.
- Das zusammenkommende Publikum begünstigte die Entwicklung von Ummünzungskapazitäten sozialer, kultureller, konfessioneller und politischer Seins- und Denkweisen, zumindest, auch bei bestehender Intoleranz, die Erprobung von Vereinbarkeiten in einem Nebeneinander.
Neben den dänischen und polnisch-litauischen Kulturformationen, wirkten sich die schwedische, russische sowie die deutsche als besonders profilgebend aus. Der Unterschied zwischen den beiden Letztgenannten ließe sich, nach vorliegender Beschreibung, als ‚geprägt‘ durch das ‚Deutsche‘, ‚gebrannt‘ durch das ‚Russische‘ kennzeichnen.
- Die kulturelle deutsch-estnische Allianz, obwohl bis in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen in inferiorer Position der Esten, brachte den Ruf Tartus als das ‚Athen am Embach‘ im 19. Jahrhundert hervor. Namhaft machen etwa die Autoren die Rolle der „estophilen deutschen Intellektuellen“ (S. 132) bei der estnischen Selbstbewusstwerdung. Sie erwähnen das ‚Wohlwollen‘ des ‚Volkes‘ beim Überfall NS-Deutschlands (vgl. S. 175), hingegen zum Thema der estnischen Beteiligung bei NS-Verbrechen äußern sie sich nicht (man darf die Patronanz dieser Publikation: „Deutsches Kulturforum östliches Europa“ dahinter vermuten). Der „Schlussstrich unter mehr als 700 Jahre deutscher Kultur in Dorpat sowie im ganzen Baltikum“ wäre, auf Geheiß wie Lockrufe der NS-Führung, selbst „gezogen“ worden (S. 170).
Überwiegend negativ kommen die Erfahrungen mit der russischen Kulturformation zu Sprache, schon deshalb, weil das Übergewicht von Profitabsicht gegenüber einer Gewährung von Gunst sich quer durch die Geschichte durchzieht: ‚Russisches‘ machte sich bekannt durch Plünderung, Devastierung, Deportation und notorischen Vertragsbruch. Auch die Wiedererrichtung der Universität (nach Gründung durch die Schweden) in zaristischer Zeit diente, als einzige deutschsprachige Universität im Reich, vornehmlich dem Bedarf an Beamten in Russland. Ende 19. Jahrhunderts wurde Dorpat/Tartu in Jurjew (einem Herrscher der Anfangszeit) umbenannt. In sowjetischer Zeit wurde Tartu eine „geschlossene Stadt“, ohne touristischer Infrastruktur, ein Sperrgebiet aufgrund „des riesigen Luftwaffenstützpunkts“ (S. 189). Dergestalt waren die Menschen regelrecht ins angestammte Territorium verbannt.
Über die revolutionären Neigungen im kommunistischen Sinne in Estland erfährt man hier nichts; nur, dass ein Verhalten des Hinnehmens die Demokratie geschwächt hätte, was „der Sowjetunion bei der Zerschlagung der Unabhängigkeit Estlands zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zugutekam.“ (S. 158)
- Erleichternd zum mentalen Verständnis ‚des Estnischen‘, bringen die Autoren Beispiele dokumentierten Humors, eine nahezu sanfte Ironie: Als 1934 ein lokales deutsches Blatt in „Deutsche Zeitung“ umbenannt wird, lautet der Kommentar, dass „die Kräfte der Herausgeber dieses Blättchens“ den Namen „Dorpater Zeitung“ beizubehalten „übersteige[n]“ würde. (S. 12)
Bei ironischer Wahrnehmung sowjetischer Herrschaft, darf das estnische „Exekutivkomitee“ „[o]hne Genehmigung der Partei“ „nur Nummernschilder für Fahrräder verteilen“ (S. 180). Hoffnung auf Veränderung „brachte nur das Gegenteil mit sich, dass der Wasserhahn der Freiheit, der sowieso nur getropft hatte, für einige Jahre ganz zugedreht wurde.“ (S. 190)
Für die beiden Historiker ist einzig „das hölzerne Bahnhofsgebäude“ in Tartu „unverändert geblieben“. Sie empfehlen die Stadt jenen, „die ein beschaulicheres Leben führen wollen.“ (S. 200)
Im schräg-grellen Licht der hier präsentierten turbulenten Stadtgeschichte, ist es wahrhaft beachtenswert, dass heutzutage einen der Schein von ‚Beschaulichkeit‘ nicht trügt.