Südslawisches Wien
Zur Sichtbarkeit und Präsenz südslawischer Sprachen und Kulturen im Wien der Gegenwart

Nachdem „die größte Fluchtbewegung aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Österreich“ (S. 205) dazu führte, dass „Migrant*innen vom Balkan das Wiener Stadtbild [prägen]“ (S. 319), Berechnungen zufolge sind dies „über 10 Prozent“ der Bewohnerschaft (S. 227), wird verständlich, weshalb mit diesem Sammelband die Dimensionen und Sphären des Südslawischen in die Stadtgeschichtsforschung Wiens miteinbegriffen werden sollen. Aus dieser zeitgeschichtlichen Brisanz heraus, viele Menschen der genannten Gruppe bezeichnen sich, nach Kriegshandlungen, als in der „Diaspora“ (S. 169) befindlich, werden hier mithilfe diverser Zugänge von unterschiedlichen Fachrichtungen die Artikulationsweisen des Südslawischen untersucht.

Die, überwiegend, Beiträgerinnen kommen aus den Bereichen der Sprach- und Literaturwissenschaft sowie aus den, im weiten Sinne, Kulturwissenschaften. Stellen manche der Beiträge Bestandsaufnahmen (teilweise mit Statistiken, Graphiken) dar, so beschreiben und bewerten kritisch andere Beiträge Zustände. Erstere entsprechen mehr einem Befund, zweitere eher einem Befinden. Mit Blick auf den Untertitel des Bandes zeigen sich die einen mehr zuständig dafür, was das Südslawische in Wien vorstellt, ausmacht: seine Repräsentanz; andere wiederum präsentieren vornehmlich, was, speziell, die südslawischen Gruppen sich vorstellen, meinen: bekundet wird Reflexivität; Allianzen, Dissens, Postulate, Visionen betreffend.

Das durch die Beiträge gebotene Sortiment birgt eine Mischung von Zustimmungen und Ablehnungen, die, indem nirgends eine Gesamtbilanz gezogen wird, offenbar gewollt eine Amivalenz zum Ausdruck bringen soll. Trotzdem kann für die Leserschaft der Eindruck eines tendenziell gedeihlichen Gelingens des Zusammenlebens der thematisierten Gruppe mit Trägern anderer Sprachen und Kulturen entstehen. Da dies nicht eigens artikuliert wird, bleibt der Verdacht, dass, implizite, genanntes Gelingen für selbstverständlich gilt.

Die Belange des Südslawischen kommen hier hauptsächlich aus den Reihen der Betroffenen selbst: der Migration der letzten 30 Jahre. Spärlich sind darin die Bezüge zur Vorgenerationen aus Jugoslawien, den sogenannten „Gastarbeitern“ der 60er- und 70er-Jahre. Obwohl mit ihnen gerechnet wird. Was nach den Balkankriegen sich, nach ethnischen und konfessionellen Kriterien, in Einzelstaaten separiert hat, wird in Wien als „postjugoslawische Diaspora“ (S. 227) wieder zusammengefasst. Eine solche, offenbar „jugoslawische Identifizierung“ hat eine doppelte Stoßrichtung: Einerseits wendet sie sich gegen die Verhältnisse in den „postjugoslawischen Nachkriegsgesellschaften“ (S. 228), andererseits entspringt das „Bedürfnis“ der Aufsummierung, zu einer „kollektiven diasporischen Gruppenzugehörigkeit“, dem behaupteten Umstand, „den asymmetrischen Machtverhältnissen zwischen der österreichischen Mehrheitsgesellschaft und deprivilegierten migrantischen Subjekten“ (S. 232) verstärkt wirksam begegnen zu können.

Kontrastiv zu negativen Darstellungen des ‚Österreichischen‘ (vgl. S. 235), wie etwa „Anpassungszwang“ (S. 92), ist häufig von Förderungen (vgl. S. 90, 320) die Rede, einem „Safer Space“, den Österreich, als „Refugium“ (S. 93) biete. Österreich figuriert dann als Ermöglichungsraum zur geeigneten Lebensentfaltung. Was nicht erstaunt, da hierzulande, anders als in den Staaten Ex-Jugoslawiens, „die ethnonationale Identifizierung als selbstverständliche [sic!], naturalisierte und unvermeidbare Identifizierungsform [eben gerade ‚nicht‘; P.R.K.] etabliert wurde“ (S. 229). In diesem Kontext wird durchaus vermerkt, dass „in jüngeren Jahren“ nicht Fluchtmotive, sondern ökonomische und Gründe der Ausbildung (vgl. S. 230) verantwortlich für das migrantische Entweichen sind. Mag eine ‚Jugonostalgie‘ (vgl. S. 241) grassieren, kennen dennoch viele die Nachfolgestaaten „meist nur aus Heimaturlauben“ (S. 44).

Lediglich in den Beiträgen zur Literatur werden die heiklen, schmerzhaften Themen des Verhältnisses zwischen den Gewichenen und den in den nach(bürger)kriegszeitlichen Staatsgemeinschaften Postjugoslawiens Verbliebenen berührt. Nur in dieser Sparte werden Pauschalurteile über das Aufwachsen im Postjugoslawien, als künstlerische Nachbereitung, gefällt: „Die verschissene Zeit“ [2021] (Barbie Markowić, geboren 1980 in Beograd, in Wien lebend).

Soweit vorliegendes Projekt Aufmerksamkeit für das Südslawische prätendiert, eignen sich die ‚Rom*nja‘ ebenso schwerlich wie die hier aufgenommene bulgarische Kommunität: als zu ‚unsichtbar‘ (vgl. S. 191, 249). Die registrierbare Seite von Repräsentanz der Vereinigung des Südslawischen mit anderen Kulturen und Sprachen zeigen auf und befördern zugleich jene Beiträge, wo etwa für den lexikalischen Ergänzungsbedarf in Wörterbüchern des Wienerischen plädiert wird (vgl. S. 314), oder wo, als Geschäftsmodell, zwar „primär ein postjugoslawisches Publikum“ (S. 331) angesprochen wird, Gaststätten, Lokale u.dgl. aber allen offen stehen.

Der populärkulturellen Vermarktung des „Tschuschen-Rap“ („Tschuschen“, eine, auch abfällige Bezeichnung für die ‚Gastarbeiterschaft‘ aus Jugoslawien der 60er- und 70er-Jahre in Österreich), mit seiner äußerst vermittelnden Funktion, widmet sich eine der Herausgeberinnen, unter dem vielsagenden Titel der Stelle eines Raptexts: „Keep It Jugo, do It Švavo“.

Die Passage indiziert, was sich nach der Ablöse von Generationen entwickelt hat, zudem, wie instruktiv dieser Sammelband ist: war „Jugo“ früher eine, auch pejorativ gemeinte Bezeichnung für Menschen aus Jugoslawien in Österreich, nennen nun, als Sammelbegriff, sich manche der Nachfolgergeneration selbst so; als „Švabo“, ein „Deutscher“ zu gelten, bedeutete nach dem 2. Weltkrieg Verweis aus dem wieder errichteten, vorher vom Deutschen Reich und Italien besetzten Staat Jugoslawien. – „Do It Švabo“ darf durchaus als Verhaltensempfehlung im heutigen Österreich gedeutet werden.

Der Hinweis auf Grabaufschriften, die Namen und Lebensdaten in den Friedhöfen Wiens, der ‚Kapitale‘ der Donaumonarchie von ehedem, hätte die Langlebigkeit des ‚Südslawischen‘ zu bekunden verstanden.

Zum allgemeinen, tieferen Verständnis kultureller Gemeinsamkeit wird hier der Umstand nicht bemüht: der geographischen Lage nach liegt Österreich, innerhalb des Raumes der deutschen Sprachen und Kulturen, im Süden (genauer: im Südosten).