Die hohe Kunst des Verzichts
Kleine Philosophie der Selbstbeschränkung

Im Duktus gelassen, formal um allgemeine Verständlichkeit bemüht, fährt der Autor mit seiner ausgewählten Zusammenstellung einen argumentativ konzisen Kurs, mit dem Ziel, den einem Rufschaden unterliegenden Wert des Verzichts zu revidieren, gleichsam eine erneuerte Inthronisation diverser Verzichtsleistungen. Er fungiert dabei merklich als einer der meint, nicht jedoch mahnt; er will einleuchten, nicht schelten, drohen, predigen und ganz eigens ist er ‚wider Panikmache‘.

Diskutiert, durchgespielt, überprüft wird der „Sinn der Selbstbeschränkung und ihre Bedeutung unter den heutigen Lebensbedingungen“ (S. 20). Übersichtlich, weil blockartig gegliedert, werden unterschiedliche Ausprägungen von ‚Verzichtsmustern‘ unterbreitet, etwa in Bezug auf Freiheit, als Lebensideal, bis zu jenem zur Rettung der Welt. Allesamt sind es Stellungnahmen zu einem menschheitsgeschichtlich sich durchziehenden wesentlichen Lebensaspekt: dem des Verzichts.

Dabei „empfiehlt sich“ für die „säkulare Gesellschaft“ von heute, „an die frühere außerreligiöse […] Bedeutung des Verzichts zu erinnern“ (S. 17), und im Zuge dessen die für überholt gehaltenen „humanen Einstellungen“ von „vorchristlichen, ‚heidnischen‘ Philosophen“ (S. 115) in ihre so fulminante Berechtigung zu setzen. Offeriert werden deren Denkhaltungen als außerordentlich geeignet, die aktuell „geradezu gigantische[n] Verzichte bewältigen“ (S. 19) zu helfen.

Bilanzierend behauptet Höffe, dass seine, hauptsächlich auf die ‚Klugheit‘ und ‚Besonnenheit‘ (oder „Mäßigung“; S. 63) setzenden, Argumente „jedoch rasch ein[leuchten]“ (S. 183), „die geringe Reputation [des Verzichts] nicht einleuchtet“ (S. 185). Ist damit ein naiver Wunsch ausgedrückt oder handelt es sich um einen Verfahrenstrick? So könnte man fragen, angesichts dessen, was alles Höffe gegen Ende seines Essays, konfrontiert mit (immer mehr) ins Auge springenden Krisenphänomenen, in einer einen Schlucken machenden Weise zu bedenken gibt.

Zu bestürzend anmutenden Schlüssen gelangt er allerdings nicht, ohne vorher einen Tugendkatalog präsentiert zu haben. Darunter die ‚Klugheit‘ und die ‚Besonnenheit‘, deren Manko sich „in Habsucht, Ehrsucht und Herrschsucht“ (S.64) auswirke. Und schon im Vorwort deutet er eine einzukalkulierende „‘dunkle Seite‘“, ein „‘Unverzichtbares‘“ betreffend an, etwas, „das man nicht ohne Mühe oder Schmerz, Reue oder Bedauern unterlassen kann“ (S. 13).

Mehr an Psychologie enträt der Autor, gleichwohl er damit die menschlichen Triebansprüche meint, denen bekanntlich auf diese oder jene Weise Rechnung zu tragen ist. Um zerstörerischen Triebappellen nicht zu entsprechen, quasi das ‚Unverzichtbare‘ zu hintergehen, zu unterlaufen (als ‚Triebsublimierung‘ geläufig), wird hier, mit Pierre Bourdieu, prononciert auf ein ‚Wohlergehen‘ verwiesen. Höffe setzt auf eine vom Materiellen unabhängigere humane (Kapital-)Besicherung durch soziale Beziehungen und kulturelle Aktivitäten (Sport, Bildung) sowie die Bereiche von Gesundheit und Rechtssicherheit (vgl. S. 173). Ausdrücklich „sollten Freiheitverzichte [sic! außer durch Verbote im Strafrecht; P.R.K.] ausgeschlossen bleiben“; für „eine etwaige Ökodiktatur“ gelte dies gleichfalls (S. 174). Nach Höffes Begründungen vergeben sich also die Menschen, im Grunde, nichts. So könnte man folgern.

Darauf folgt es allerdings Schlag auf Schlag: Die „Heimatländer“ der Flüchtlinge würden eine „innere Mitverantwortung“ (S. 138) für deren Zustände tragen. Die Frage nach einem ‚Recht auf Faulheit‘ endet mit: „Das Faulenzerland ist ein Torenland.“ (S. 150) Einer Verteufelung des ‚Kapitalismus‘ wird eine Absage erteilt (vgl. S. 155/156). Den „Ureinwohnern, den Indios“, „müsste“ man „die Regenwälder zurückgeben“, noch dazu, wo dies als „unbezahlbares Geschenk für die „gesamte Menschheit“ ausgegeben wird (S. 175/176). Jene davon eklatant betroffenen „Länder [müssen] auf die eine oder andere Weise auf ihre Bevölkerungsexplosion verzichten“ (S. 169).

Zur Steigerung an Unangenehmen, als Stoff zur Entrüstung, wird noch auf die Bedrohung hingewiesen, die aus dem erwächst, „allen Menschen ein [annähernd gleiches; P.R.K.] Lebensniveau gewährleiste[n] [zu] soll[en]“ (S. 169), da solche Bestrebungen das „Dilemma“ bergen, „dass die gerechtigkeitstheoretisch gebotene Armutsbekämpfung einen ökologischen Preis abverlangt, der die Umwelt- und Klimakrise, statt sie abzumildern, entschieden verschärft“ (S. 166).

Der Autor weiß wohl, einer Reversion, einem Umsturz der globalen Verhältnisse das Wort zu sprechen. Mit Kant und Descartes traut er den Menschen eine Wende in ihrer anthropologischen Entwicklung zu, auch und gerade als eine – gegebene (siehe die Liste von Anstößigkeiten oben) – Zumutung. Dabei setzt Höffe auf Moralität, weil für ihn der Mensch „als ein vernünftiges Tier sowohl Teil der Natur ist als auch diese übersteigt“ (S. 178). Statt ein bescheideneres ‚Zurücktreten‘ gegenüber diesem Teil der Natur vorzuschlagen, plädiert er für eine Steigerung der Moralität mithilfe von Ästhetik.

Markant kommt diese Wendung zur Poesie und Kultur, zur ‚hohen Kunst‘ im Kapitel ‚Zwischenspiel‘: „Erfüllung durch Verzicht: Hohe Minne“ zum Ausdruck. Erotische Gefühle zu nützen für eine Selbstdisziplinierung, so wie im hohen Mittelalter geübt, indem man einer, vielfach aus Standesgründen unerreichbaren Frau huldigt, die Sehnsucht aber unerfüllbar bleibt, gilt Höffe als Muster für eine kultivierte Form einer „Erfüllung durch Nichterfüllung“ (S. 129). Damit wird das Beispiel einer Praxis gegeben, wo es ein Versagen nicht geben kann. Nur ein Aussetzen dieser Bestrebung ist nicht geboten; trotz Fehlbarkeit und des Scheiterns eingedenk. Zu Beginn heißt es bereits: „Die Sinnen-, Sinnlichkeits- und Leibfeindlichkeit ist der Besonnenheit fremd“ (S. 64).

Der Autor mildert damit nicht relativierend seine aufgeführten Sachverhalte, die Gravamina. Er deutet das Modell einer schroff konfrontativen Herangehensweise zur Krisenbewältigung an, und zwar, als Prämisse, unter der Ägide des Eros, nicht des Todestriebs (Thanatos). Er, der sich gegen Panikmache verwahrt, umspielt, ‚umgarnt‘ in der Kreation, dem Verfahren seines Essays – listig – (s)eine Bangigkeit.

Der Essay steht unter dem Vorzeichen eines: ‚Gegen den Strich‘ (A rebour). Er beinhaltet die Ermunterung zu einer Reversion, eine gravierende Richtungsänderung, die berücksichtigt, was den Menschen allein wirklich zukommt: deren Gesundheit, ja deren nötige Rettung.