Muttersprache und Vaterland
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Thomas Hainscho

Der unter ‚Nachwort‘ und ‚Angaben‘ rubrizierte Teil umfasst ein Drittel des Bändchens - mit gutem Grund. Befinden sich hier doch Angaben zur Textgenese, zu Grundzügen bisheriger Rezeption sowie den Erwartungen, die mit der Neuherausgabe verknüpft werden. Allem voran interessieren die politischen Implikationen des, so der Herausgeber, eine „Schlüsselstellung“ (S. 83) einnehmenden Textes; gefragt wird, ob die „Einschätzung erlaubt [sei]“, dass sprachkritische Argumente gegen nationalistische Positionen eingesetzt werden können“ (S. 95).

Bislang stellte sich in der Forschung zu Mauthner bezüglich der „Frage nach der Rolle von Muttersprache bei Konflikten um Zugehörigkeit“ (S. 96/97) „Einigkeit“ (S. 94) nicht heraus. Überhaupt gilt Mauthners sprachkritisch angelegte Philosophie als umstritten, angezweifelt, er als Außenseiter, dessen Werk heute wohl eher im Hintergrund. Vorliegender Neudruck erschien erstmals 1920 als Band der Reihe ‚Zellenbücherei‘ (spezialisiert auf „populärwissenschaftliche Abrisse über Themen von öffentlichem Interesse“; S. 78). Mauthner hat dazu eine Kompilation auch früherer Arbeiten, zudem Versatzstücke seiner Kriegspublizistik von 1915 geliefert (der ‚Anhang‘ ermöglicht Einsicht in dessen Auswahlprinzipien, den Abschwächungen seines prononcierten Deutsch-Nationalismus).

Bei Lektüre des Textes gewinnt man leicht den Eindruck, es mehr mit thesenhaften Darlegungen denn einer Analyse zu tun zu haben. Der Charakter des Beiläufigen, Ungefügen rührt dabei aus der Methodologie des Autors. Dessen Arbeit an Begriffen orientiert sich an deren Verwendungen, ihrem der Geschichte unterliegenden Gebrauch: So will er etwa „Muttersprache, Volk, Nation, Staat, Vaterland […] etwas näher ansehen und vielleicht ein wenig vom Staube säubern, den die geschichtliche Entwicklung darüber hat fallen lassen.“ (S. 52). Für alle diese Wörter führt er, als deren Basis, das Liebesargument ins Treffen (vgl. S. 55/56); als gewendete Emotionen gründen dann für Mauthner kollektive Konflikte ursprünglich auf dem „Völkerhaß um der verschiedenen Religionen willen“ (S. 64).

Ganz so neu mögen einem auch andere Ausführungen Mauthners nicht vorkommen, insbesondere jene zu Erfindungen von Traditionen sowie Fälschungen, der „Lust am Truge“ (S. 47) im Dienste von Herrschenden. Die Spitze seiner Polemik nimmt dabei die soziale Basis nicht aus: „Der Imperialismus ist […] der Patriotismus des Geldsacks“, allerdings seien im fortgeschrittenen „Maschinenzeitalter Kapitalisten und die Lohnarbeiter gleicherweise verführt, ihre Taschen zu füllen“ (S. 39/40). Politische Gehalte stehen bei Mauthner außer Frage, selbst wenn er sich dagegen sträubt und Politik, signifikant, als „Mutter [sic!] der Lüge“ (S. 61) tituliert.

Ohne Erweiterung des Kontexts von Mauthners methodologischer Sprachkritik, kann ein verständlicher, nachvollziehbarer Brückenschlag zwischen dessen spezifischen Besprechungsmodus der Wörter ‚Muttersprache, Vaterland‘ kaum gelingen. Entsprechend schwer einzulösen ist der Erwartungsanspruch (siehe oben) des Herausgebers. Wohlweislich räumt Hainscho das Manko einer historisch-kritischen Ausgabe ein (vgl. S. 98); er unterstreicht, hier eine „lose miteinander verknüpfte Sammlung einzelner Aufsätze“ (S. 84) vorzulegen. Sein ‚Anhang‘ mit Erläuterungen vermag kaum die Anfälligkeit für Missverständnisse, sinnwidrige Texterschließung verhindern. Etwa bei Passagen wie die folgende, zum immerhin titeltragenden Thema: „So ist die Gemeinsamkeit der Muttersprache wirklich das Höchste, was der Mensch in seinem innersten Gewissen an Gemeinsamkeit vorfindet“ (S. 63). Zusätzliche Angaben von Basistheoremen der sensualistisch, überaus empiristisch geleiteten Sprachkritik Mauthners erscheinen demnach als unerlässlich.  Basistheoreme, wie sie die Auswahl von Texten in: Fritz Mauthner: Sprache und Leben. Hrsg. Gershon Weiler. Salzburg, Wien 1986 enthält:

Aufschlussreich wären beispielsweise Textpassagen aus dieser Ausgabe: S. 64: „die Sprache als ein Werkzeug unseres Denkens“ [ist] Mythologie“; S. 71: die Sprache ist „soziale Wirklichkeit“; S. 72 (kursiv im Orig.): „Wo ist also das Abstraktum ‚Sprache‘ Wirklichkeit? In der Luft. Im Volke, zwischen den Menschen.“; S. 99: „die Weltanschauung, welche in der Volkssprache niedergelegt ist, [ist] zusammengerafft und zusammengeborgt worden von allen Erdenvölkern“; S. 103/104: „Widersprüche gibt es nur in der Sprache. Die Natur, wie sie nur einmal da ist, ist auch einheitlich. Diese Einheit können wir nicht entdecken, wenn wir denken oder sprechen, diese Einheit können wir fühlen, wenn wir leben, ungetrennt von der Natur, wie Kinder im Mutterleibe der Natur. Man kann das auch Mystik nennen […]“.

Das spezielle Verständnis Mauthners von ‚Sprache‘ (ein Konglomerat vieler Sprachen) in Kombination mit ‚Muttersprache‘, ‚Mutterleib‘ und ‚Natur‘, letztlich Religion, kann nur mit vergleichbaren Erweiterungen eingeordnet werden. Für den Herausgeber ist Mauthner „unverhohlen nationalistisch“ (S. 93). Gleichwohl präsentiert er u.a. eine französische Rezeptionsvariante, die besagt, „Mauthners Verständnis von Muttersprache stellt eine Alternative zu einer begrifflichen Opposition von sprachbasiertem Nationalismus und Universalismus dar“ (S. 97). Zu nachvollziehbaren Gedankensprüngen dieser Art verhilft einem der ‚Anhang‘ leider nicht. Das dankenswerte Hervorholen dieses Werks, kann daher, wollte man Mauthner gerecht werden, nur die Funktion einer Ergänzung beanspruchen.