Vorliegendes, im Doppelsinn gewichtiges und durch Statuierungen gewichtendes Exempel einer Gewissenserforschung bewegt sich entlang zahlreicher Parameter, Indikatoren, Komponenten und Konstellationen von Metamorphosen bezüglich des Gewissens der Deutschen.
Leitend dabei ist das eines schlechten, mit moralischer Schuld beladenen Gewissens, angezeigt durch die anhebende zeitliche Eingrenzung, 1942, jenem Jahr der noch drastischeren Verdeutlichung des weltweit sich auswirkenden und entsprechend im Gefolge auch so beurteilten zivilisatorisch-humanistischen Megaskandalons, verübt durch ‚das deutsche Volk‘.
Der titeltragende Aufbruch meint den Wandel und die Verwandlung der deutschen Gesellschaft, und zwar, wie „aus dem langen und bitteren Konflikt über Schuld und Erinnerung eine neue deutsche Identität und Selbstsicherheit und ein gewisser Stolz darauf, eben nicht stolz zu sein, [erwuchs]“ (S. 898). Gerade aufgrund der als großzügig angesehenen Immigrationspolitik, sah, laut Verfasser, man sich veranlasst, erwähnte „Metamorphose [als] abgeschlossen“ anzusehen, sich „als moralischer Leuchtturm für die Welt“ (S. 707) präsentieren zu dürfen. Wobei das das historische Kainsmal hinter sich lassende ‚Out of the Darkness‘ (Originaltitel) „Deutschland eine ausgeprägte Orientierung auf die Zukunft verschafft [hat]“ (S. 889).
Der außerhalb Deutschlands lehrende Autor, wendet seiner Herkunftssozietät nicht den Rücken zu. Seine ‚Röntgenbilder‘ zur Genese der Moralen (Wandel der Einstellungen, Haltungen, Handlungen), werden m.E. allesamt in Sachen einer guten Gesinnung unternommen. Angesprochene räumliche Distanz sowie die fast panoramaartige Zusammenstellung und Aufbereitung sehr diverser Quellen (Studien, Protokolle, amtliche Berichte, Meinungsumfragen u.a.m.), gewährleisten die merkliche Ausgewogenheit seiner Beurteilungen. Dabei, im Zuge fortgesetzter Vergleiche, springt Trentmann in seiner mit jeweiligen Titeln versehenen vier Kapitel, ungeachtet durchgehaltener Chronologie zeitlich vor und zurück.
Im Falle verlockend sich bietender historischer Phänomene von Vergleichbarkeit, bleibt er konsequent im gewählten Rahmen von Staaten (DDR, BRD) und Zeitperiode. Auch dort, wo die intensivierte Beschäftigung mit dem deutschen Kolonialismus den „seit den achtziger Jahren zu einem Pfeiler der westdeutschen Identität“ gewordene „Anerkennung der Singularität des Holocausts“ (S. 903) in den Nullerjahren des 21. Jahrhunderts anzunagen begann. Schon deshalb, weil seiner These nach „der Holocaust vor allem aufgrund des gesellschaftlichen Drucks von unten ins Zentrum der deutschen Identität gerückt [ist]“ (S. 902), ist eine Erweiterung seines gewählten Zeitrahmens nicht angezeigt.
Weitere wesentliche Schlussfolgerungen Trentmanns sind: In der unmittelbaren Nachkriegsphase war es der Staat, der es nicht bei den latenten, schlummernden Schuldgefühlen beließ, indem „mit der Wiedergutmachung der westdeutsche Staat seine Bürger von der Last, sich ihrer persönlichen Verantwortung zu stellen [befreite]“ (S. 253), und dabei eine kollektive tätige Reue „unter staatlicher Ägide […] in einen bürokratischen Prozess umwandelt[e]“ (S. 249). Zwecks Westintegration ging in der Adenauerzeit „Moral und Realpolitik […] ein symbiotisches Verhältnis ein“ (S. 286).
Eine beträchtliche pädagogisierende Langzeitwirkung, im Sinne einer Verantwortungsethik (vgl. S. 546ff.), misst der Autor den mehr (alltags)praktisch sich ausbreitenden Initiativen der evangelischen Kirchen (Diakonie) und der katholischen Kirche (Caritas) zu. Gerade diese Instanzen und Institutionen sollen, laut Verfasser, dem allgemeinen Bedürfnis nach „Frieden und Ordnung“ exzellent entsprochen, jedoch auch ein uniformes Verhalten (weiter) tradiert haben. Ein Kummerdasein scheinen für Trentmann deshalb alternative Lebensformen lange zu führen, wenn er vermerkt: „Es [war] noch ein weiter Weg, bis Anderssein als etwas Positives anerkannt wurde.“ (S. 333)
Der ‚Neuen Linken‘ in den Spätsechzigern, außer in ihrer Einreihung in die sozialethischen Reformideen der SPD, misst der Autor signifikant keinen besonderen Stellenwert als moralischen Auftrieb zu; deren „Revolution im Alltag“ und „persönlichen Utopien wurden von der Konsumgesellschaft rasch vereinnahmt und in neuer Verpackung gewinnbringend verkauft“. (S. 315/316)
Die Differenz zwischen der Entwicklung in der DDR zu jener der BRD resultiert allein schon daraus, dass in Ersterer „das individuelle Gewissen ruhiggestellt [wurde]“ (S. 370). Der plakatiert verwirklichte ‚Sozialismus‘ sowie die ‚Demokratie‘ im Staatsnamen verhieß eine ‚strahlende Zukunft‘, die sich jedoch durch aufgenötigtes Normverhalten und „Versorgungsknappheit“ (S. 375) verdüsterte; existenziell versinnbildlicht, befand man sich unter grellem Licht in einem Tunnel, aber ohne Licht an dessen Ende (vgl.S. 413, 418).
Die den Deutschen insgesamt attestierte Zukunftsausrichtung gilt für den Autor auch heute, dass nämlich weiterhin „ihr Morgen eine bessere Version der Gegenwart ist“ (S. 892). Als Experte für Konsumgeschichte setzt er zuversichtlich darauf, dass „sich der Konsum auf immaterielle Formen verschieben [wird]: Qualität, Langlebigkeit, Dienstleistungen, Ferien in der Natur, erfüllende Freizeit“ (S. 864). Gleichzeitig befundet er kritisch ein Verharren der Deutschen in einer Lebensführung, die allzu geprägt ist durch repetitive, stereotype Handhabungen. (vgl. S. 891) Indem Bedürfnisse historisierbar, stellt er zuletzt die Frage: „Warum konzipieren und gestalten wir ‚unsere Bedürfnisse‘ nicht ebenso neu?“ (S. 893), und schlägt vor, „das wirtschaftliche Kapital des Landes neu auszurichten.“ (S. 908)
Mannigfaltige Daten sind in diesem Werk geeignet, den Deutschen angeheftete Bilder und jene, die Deutsche sich selbst anheften zu korrigieren oder in eine internationale Relation zu setzen. So etwa: „Die Einkommensungleichheit hat jedoch seit 2019 nicht zugenommen, sie entspricht der Frankreichs und ist weniger ausgeprägt als in Italien, dem Vereinigten Königreich oder den Vereinigten Staaten.“ (S. 901) Auch solche Angaben sind Marker der aktuellen staatsgesellschaftlichen Sozialmoral.
Ein ‚Weißbuch‘ ist es nicht geworden, wie der Titel dies vermuten ließe. Dazu ist der Autor zu kritisch, zu wenig affirmativ. Die Darstellung sticht jedoch ab von verbreiteten, entsprechend populären Formen des Kritizismus von Deutschen gegenüber Deutschland. Für Trentmann stehen die Zeichen auf: weiteren Reformen, vorzugsweise Neoformen!