Ravenna
Hauptstadt des Imperiums, Schmelztiegel der Kulturen

Die Byzantinistin verleiht Ravenna „eine eigene Stimme“, die der Stadt versagt blieb, da sie „ihre führende Rolle stets durch Außenstehende aufgezwungen bekam“ (S. 461). Zudem nötigen die „Lücken“ durch Tilgungen, Verwitterung, Demontagen dazu, viel „Fantasie“ aufzuwenden, gerade diese Stadt „immer wieder neu [zu] überdenken“ (S. 458). Das Bedauern ob dieses charakteristischen Mangels drückt die Autorin gemäß ihrem Metier, wo Reliquie und Relikt oft eins sind (angesichts der in Ravenna von Touristen zurecht so bestaunten und breitenwirksam bekannten Mosaiken), so aus: „Von Theoderichs Porträt ist nicht einmal ein Fingernagel erhalten“ (S. 459).

Allein das Volumen des Anmerkungsteils demonstriert die Wissenschaftlichkeit; im gebotenen Fall wird Interpretation als solche ausgewiesen. Im Stil flüssig, verständlich, zuweilen ‚populärwissenschaftlich‘ im besten Sinn, ja auch spannend-lebendig, ist dies angesichts der dichten Reihung verwickelter Fakten auch von erzählerischem Wert (einen Einordnungsraster bietet die Chronik: ‚Konkurrierende Mächte‘ im Anhang). Einer Zig-Zag-Bewegung gleich, rollen 400 Jahre Ravennas ab; als Zentrum sich zunächst kreierend, dann aufrechterhaltend als Gravitationsfeld konvergierender und antagonistischer Kräfte. Sachlogisch bedingt, ist es eine Geschichte von und über Eliten; durchsetzt mit Kapiteln über „das Leben“ (vgl. S. 224), wo jene die Allgemeinheit betreffenden Formen besonders durch Rechtstexte verdeutlicht werden. Was Herrin dabei alles zusammenträgt, ist für Heutige von schätzbarem Profit, da sie von einem tourismusmagnetischen Ruf, einem ‚Label‘ ausgehend, den ‚Spirit‘, ‚Logos‘ und besonderen Topos der Stadt konkret macht.

Am speziellen Karrierebeginn ist Ravenna diplomatisches Konstrukt, als zweierlei Platzhalter: eines Roms im Niedergang sowie als Filiale des an Macht aufgestiegenen Konstantinopels. Ravenna musste nahezu Roms Nimbus, über die verordnete Funktion als dessen Surrogat und Substitution hinaus, übertrumpfen. Eine im Grunde unmöglich leistbare Ambition, welche bei Herrin meisterlich, eben ‚à la Ravenna‘ gelöst erscheint. Während ihres Beobachtungszeitraums, im ‚Frühchristentum‘, verdient sich die Stadt eine beträchtliche Sammlung von Epitheta. Außer diplomatisch, ist Ravenna als Kumulationspunkt: räsonabel, honorabel, eminent, nobel, gravitätisch, administrativ, korrekt(iv), attraktiv (als Beute), mediatorisch, persistent, loyal; aber auch: heterogen, alternativ, renitent, (kulturell) „extravagant“ (S. 456), autonom. Dieses Sortiment könnte mit einer Charakteristik zusammengefasst werden, die Herrin einem Bischof zuschreibt: „eigenmächtig“ (S. 422). Die Bischöfe als geistige und geistliche Bindemächte sind es auch, welche „die Loyalität ihrer Schäfchen in ein städtisches Selbstbewusstsein umzumünzen“ (S. 456) verstehen. Die soziale Kohäsion, gespeist aus ebenfalls persönlich gelebter Innigkeit des Glaubens (vgl. S. 453), fördert die Individualität eines urbanen Kollektivs. Ravenna kommt ohne Stadtpatriziat aus, stellt deshalb eine Art ‚Glaubenswurzeldemokratie‘ dar.

Wenn im letzten, resümierenden Kapitel die Autorin von „Fusion“, „Symbiose“, einer „Akkulturationspolitik“ (S. 461, 466, 467) spricht, so meint sie vermutlich ein luzides Amalgam, das keineswegs opak ist. In schlichter Anwendung wissenschaftlicher Standards, erspart sie einem die ihnen zugrundeliegenden Theorien (so stellt Ravenna soziologisch den Prototyp eines ‚Hybrids‘ dar; die ‚Akteur-Netzwerk-Theorie‘ schimmert durch). Wenn es Herrin generell um den „langwierige[n] Prozess“ (S. 464) der Herausbildung des ‚Frühchristentums‘ geht, innerhalb dessen, in konzentrischer, konzentrierter Weise, Ravenna als „die erste europäische Stadt“ (S. 468) figuriert, so muss man diese These nicht unbedingt teilen. Dass jedoch auf Ravenna Zuschreibungen wie: „Schmeichelei, starre Hierarchien und Manipulation“, so wie „bis heute die pejorativen Konnotationen des Adjektivs ‚byzantinisch‘“ (S. 19) lauten, exakt eben gerade nicht zutreffen, könnte nach der Lektüre vorliegenden Werks einleuchten.

Ravenna wird hier vorgeführt als eine Legierung mit Echtheitszertifikat, eine Stadt, die sich, gleichsam, vom Derivat zum Original mauserte. Man versteht dann, weshalb die Umschrift des Wappens von Ravenna die, vergleichsweise, unpathetisch schlichten, dafür umso zutreffenderen beiden Wörter ziert: ‚Felix Ravenna‘.