Ungleiche Brüder
Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart

Familial fasst der Autor das Verhältnis der in den jeweiligen, sich auch überschneidenden Geosphären lebenden Menschen dieses Namens. ‚Streit in der Familie‘ kommt vor! In den Kapitelüberschriften ist jedoch viel von ‚Eintracht‘, vom Gemeinsamen die Rede: in der ‚Wiege der Kiewer Rus‘; als ‚verspätete Nationen‘; den zweierlei Ausformungen einer geteilten ‚Russischen Revolution‘ sowie im Gefolge zusammen in der ‚Völkerfamilie‘ der Sowjetunion. Selbst ‚Annäherungen der Ukraine an Russland‘, die Integration ins Zarenreich ist nicht einseitig vorstellbar; wäre da nicht das Urteil eines ‚asymmetrischen‘ Verhältnisses, der imperialen Beherrschtheit der Ukrainer, unter russischer „Hegemonie“ (S. 129).

Die Dissonanzen, ja eklatante Diskrepanzen der beiden seit einem nunmehr Vierteljahrhundert bestehenden Nationalstaaten werden allerseits kund durch die militärische Präsenz Russlands auf ukrainischem Territorium (ab 2014). Nicht nur trifft sie die Menschen dort existenziell, vielmehr bringt offenbar der Konflikt Zug um Zug ‚den Westen‘ zu einer Umgestaltung der Nachkriegsordnung seit 1945.

„Die russische Nation war ohne Ukrainer unvollständig“ (S.198), „fragmentiert“ (S. 109). Feststellungen des Autors wie diese sind gut gestützt auf Aussagen von etwa 1863, dass das „ukrainische Volk […] ein essentieller Teil des russischen Volkes“ (S. 104) sei; Putin, in den Fußstapfen, würdigt (2015) die ukrainische Leistung, „‘den Anstoß zur Formierung der einigen russischen Nation‘“ (S. 33) gegeben zu haben. Fragt sich, was hat der aktuelle Staat Ukraine traditionell Russland voraus?

Außer der genannten ‚Kiewer Rus‘, sind die Menschen der westlichen Geosphäre ab Ende des 13. Jahrhunderts im Staatsverband ‚Großfürstentum Litauen‘ sowie ‚Polen-Litauen‘, während für jene im Osten erst Ende des 15. Jahrhunderts die Herrschaft der ‚Goldenen Horde‘ (Mongolen) endet. Sodass dann „die zentralisierte Autokratie des Zaren den libertären Idealen der Kosaken und der polnischen Adelsrepublik gegenüber [steht]“ (S. 53).

Die Ukraine liefert besonders die Bildungsschicht, wird so „zum ersten Kanal der Verwestlichung Russlands“ (S. 70). Vom ‚Westen‘ wird vornehmlich die staatliche Potenz ‚Russland‘ wahrgenommen, obwohl ohne Ukrainer und Weißrussen die Großrussen die Minderheit im ‚Russländischen Reich‘ bilden (vgl. S. 103). Untertänigkeit zu erdulden, lernen die Menschen am ukrainischen wie russischen Dorf gleichermaßen (vgl. S. 128/129). Jedoch bei den Unabhängigkeitsbestrebungen während des 1.Weltkriegs tut sich die ukrainische ‚Rada‘ mit ihren Vorschlägen als besonders basisdemokratisch hervor (vgl. S. 137). Auch bei der kommunistischen (Zwangs)Kollektivierung opponieren die ukrainischen heftiger als die russischen Bauern (vgl. S. 165).

Massentötenden Totalitarismus gewohnt, lässt viele Ukrainer zahlreicher als Russen auf die mehr erfolgversprechende, vermutlich auch gelegenere ‚deutsche‘ NS-Version setzen und mit den Gegnern der Sowjetunion kollaborieren (vgl. S. 179). 1990 stößt die Unabhängigkeit der Ukraine das Ende der Sowjetunion an. Die zweieinhalb Jahrzehnte danach resümiert der Autor so: „In keinem anderen postsowjetischen Staat mit Ausnahme des Baltikums wurde eine parlamentarische Demokratie mit korrekten Wahlen, die zu Machtwechseln führten, und weitgehend freien Medien etabliert“ (S. 228).

Kappeler spart nicht mit Kritik: Die Ukraine war für die „meisten Europäer ein weißer Fleck auf der kognitiven Landkarte“ (S. 197); „[v]iele erwarteten, dass [im ukrainischen Fall] keine vollständige Unabhängigkeit gemeint war“ (S. 196). Die Ukraine hat sich, nun, da sich die Ukraine mit Russland in einem (zur Überraschung vieler) regelrechten Krieg befindet, ins Bewusstsein vieler zurückgerufen.

Kappeler hat mit den ‚Vorbemerkungen zur erweiterten Neuausgabe‘ von 2023 „den Text der ersten Auflage unverändert“ belassen (ergänzt um knappe Ausführungen zu einem Krieg, der andauert). Der Autor pocht auf diese Weise auf die Gültigkeit seiner Darstellung (deren etwaige Überholtheit nicht an der Überholung durch eben oder noch stattfindende Ereignisse liegen kann).

Die Gültigkeit der Zusammenstellung des Autors zeigt sich auch daran, wie instruktiv es sein kann, unter anderem mit ihrer Hilfe jene Frage zu erhellen, die eben präferiert wurde: ‚Was hat die Ukraine Russland voraus? (Die Rezension und die Seitenangeben im Text beziehen sich auf die inzwischen vergriffene 5. Auflage.)