Sinneslandschaften der Alpen
Fühlen / Schmecken / Riechen / Hören / Sehen

In der Art eines Tributs an den ‚cultural turn‘, genauer dem ‚emotional turn‘ nimmt sich das Forschungsteam den Radien von Aktivierungen der im Untertitel genannten fünf Sinne anlässlich von Alpenerlebnissen an. „Die Alpen sind ein ubiquitäres Gebirge“ (S. 105), heißt es; dem entsprechend verklammert der schmale Band einen Reichtum an Aspekten. Die gelieferten Erkenntnisse des Teams (aus den Bereichen Historik, Ethnologie, Dialektologie, Musik- und Literaturwissenschaften, Populäre Kulturen) markieren in ihren Skizzen anhand von Evokationen bestimmter Sinnesareale die sich geschichtlich durchziehende Allianz von ‚Genuss und Geschäft‘. Die Kapazitäten des Alpennutzens, wovon hauptsächlich die Rede, bieten Räume der Arbeit und der Erholung.

Die Alpen als materielle Ressource, hier exquisit für die Sinne, als Reservoir und Katalysator, wird dabei stets gelobt, ja (an)gepriesen. Regelrechte Faszination hingegen angesichts der Alpen(bilder) wird (er)nüchtern(d) einsortiert als etwas „zwischen stummer Verwunderung und plakativem Vergnügen“ (S. 111). Was stellt den thematischen Reiz dar? - Es ist die pure morphologische Gegebenheit des so weit gespannten Alpenstocks, der allerhand Überwindungsleistungen abfordert. Schon allein die verkehrstechnische Unumgänglichkeit und unwillkürlichen Blicke, die die Berge auf sich ziehen. Eine damit verknüpfte Mühsal wird dabei allerdings umgangen. Das ‚Massiv‘, so wuchtig auch immer, erhält hier keinerlei ‚Majestät‘.

Das Team am Werk ist aus der Schweiz, der französischen. - Den Niederschlag findet die Perspektive aus der ‚Romania‘ vornehmlich in Schwerpunkten gesetzt bei den Interessen, ökologisch-politischen, kulinarischen Aspekten und speziellen historischen Vorläufern; gleichwohl gibt es Belange aus Bayern und Österreich. „Haben sich unsere Wahrnehmungen verändert? Offenbar ja, zumindest teilweise.“ (S. 99) - In der Einschränkung der zustimmenden Behauptung ist u.a. die Prätention (das Wünschenswerte) sowie das Erkenntnisinteresse vorliegender Studie verpackt. Bewerkstelligt werden sie mit „Konzepten und Zugängen der neuen Phänomenologie“, ausgerichtet auf „Umgangsweisen mit Körpern und Sinnen sowie deren Auslegungen.“ (S. 108)

Da Kommunikation über Sinneswahrnehmungen Interpretationen erfordern, kann es sich hier nur um ein Annäherungsprojekt handeln. Ein Kapitel lautet konsequenter Weise: „Welches könnte der Geschmack der Alpen sein?“ - Die Leserschaft wird dann dazu eingeladen, aus ihrem jeweiligen Fundus mitzuagieren. Nachvollzug im strengen Sinn kann sich im Fall von Emotionen kaum einstellen, wie es das Beispiel des am Frontispiz des Buches abgebildete (Werbe)Plakat für die Gemeinde Weggis am Vierwaldstättersee (1919) zeigt, das immer noch sehr populär und entsprechend teuer gehandelt wird. Der Beiträger verbindet die abgebildete Frau im Badekostüm mit: „die Verführung selbst [, die] die Sirene des Sees darstellen könnte“ (S. 36). Genauso gut vermag sie einem als eine ‚züchtige Verheissung‘ erscheinen.

Die Bemühungen des Teams schlagen daher dort mit besonderem Gewinn zu Besuch, wo sie nolens volens auf die schwierige Benennung von Sinneseindrücken stoßen: das Bestimmbare sowie das Unbestimmbare: Deren „Beschreibung […] hat daher eine potentiell beschränkte Wirkung“ (S.48), wird konzediert. Und Mängel im Belegbaren sind beträchtlich: Mängel in der Datenlage zu Geruchserhebungen früherer Zeit (vgl. S. 63); Nöte der Benennung aus lexikalischen Gründen (vgl. S. 65). Überhaupt berührt das Thema die Debatte um den sogenannten ‚Realismus‘ (vgl. S. 111). So wie etwa „die Aromen des Edelweiß zwischen Blumen und Kräutern angesiedelt“ (S. 59) werden, wird man hier überhaupt häufig auf Zwischen(be)reiche der Sinne verwiesen.

Immerhin kann der Grad an Komplexität daran gemessen werden, dass hier „die Alpen als visuelle Sinneslandschaften auf einem dynamischen System von Bildern und Räumen, Orten und Praktiken [gründen], das sowohl Produkt als auch Ressource immer wieder neuer Konstellationen und Erfahrungen ist.“ (S. 115) Die Rede ist von Affordanzen (Anbietungen, Anleitungen), mithilfe derer man den Betrachter:innen von Panoramen zur Entfaltung der Sinne auf die Sprünge zu helfen versucht (vgl. S. 119). Dies lässt Rückschlüsse auf den aktuellen Stand ‚geänderter Wahrnehmung‘ zu!

Das Team ist sich mit ihren Re-Versionen der Unwiederbringlichkeit vormaliger Sinnesempfindungen bewusst. Kritisch erwähnt wird auch die Ambivalenz, zugleich das ‚Unberührte‘ wie das ‚Vertraute’ zu suchen. Nichtsdestotrotz will es dazu einladen, „die Dichotomie zwischen Natur und Kultur zu überwinden“ (S. 99). Mit Sicherheit sind hier besonders ‚Sinnlandschaften’ abgehandelt; in denen gibt es zwar ‚Blickregime‘ und ‚Klangregime‘, jedoch signifikant keine ‚Majestät der Alpen‘. Auf aktuellem kulturwissenschaftlichen Niveau wird hier davon gezehrt, dass die Alpen einem nicht nur sprichwörtlich ‚Berge geben‘ können.