Die Literatur über den Holocaust und die nationalsozialistischen Massenverbrechen ist, so wird fast schon seit Jahrzehnten festgestellt, selbst für Spezialisten kaum mehr zu überblicken. Auch die Zahl der Synthesen steigt stetig an und hat bereits eine stattliche Zahl erreicht, zu der auch der Autor des hier zu besprechenden Bandes schon früher beigetragen hat. Das neueste Buch von Dieter Pohl, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Klagenfurt und ausgewiesener Experte für den Holocaust, reiht sich hier ein und weist doch einige Besonderheiten auf. Das liegt vor allem auch daran, dass es Teil der dringend notwendigen und nunmehr fast abgeschlossenen Neuausgabe des Gebhardt Handbuch für deutsche Geschichte ist.
Das schlägt sich vor allem im Aufbau nieder. An den Anfang ist eine ebenso ausführliche wie unübersichtlich gestaltete über 30seitige Bibliografie für die Bände 18 bis 24 gestellt, die hier, im 20. Band der Reihe, teilweise deplatziert wirkt. Es folgt ein knapper Überblick über die Entwicklung und den Stand der Forschung zu den nationalsozialistischen Massenverbrechen sowie eine Schilderung der Quellengrundlage. In dem darauf folgenden und treffend im Plural mit „Vorgeschichten“ betitelten Kapitel entfaltet Pohl die vielen Vorgeschichten, die für die Thematik seines Bandes relevant sind: Antisemitismus, Antiziganismus, Eugenik, Antikommunismus und Antislavismus. Hierzu gehört auch der Überblick über die Entwicklung der Jahre 1933 bis 1939, vor allem auf Deutschland beschränkt. Hier wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, ab Herbst 1939 immer weitere Teile Europas zu besetzen und dort die Massenverbrechen in Gang zu setzen. Das waren der Ausbau der Dominanzstellung der NSDAP, der Abbau des Schutzes des Individuums, die Demontage des Rechtsstaats sowie die Etablierung von Rassismus als Handlungsgrundlage. Pohl ergänzt dies um die Schilderung der institutionellen Grundlagen, die ebenfalls in dieser Zeit geschaffen wurden, nicht allein aber zentral zum Beispiel die Verschmelzung von SS und Polizei und ihre Vorrangstellung. Wichtige Entwicklungen in Europa, die etwa für das Verständnis von Fragen nach Kollaborationsbereitschaft oder Widerstand von Bedeutung sind, lässt Pohl nicht gänzlich unter den Tisch fallen, kann sie vielfach jedoch nur schlagwortartig benennen.
Den Kern des Bandes, die Massenverbrechen des NS-Staates, behandelt er in einer Mischung chronologisch und systematisch gegliederter Kapitel. Zunächst beleuchtet er die Verbrechen in Deutschland und den bis 1941 besetzten Gebieten, also die Verfolgung und Ermordung von Juden in Polen sowie den west- nordeuropäischen besetzten Ländern, den Krankenmord im Deutschen Reich und außerhalb sowie Verbrechen an der Zivilbevölkerung, insbesondere an der politischen und gesellschaftlichen Elite in Polen. So kann er überzeugend zeigen – und unterstreicht dies zusammenfassend –, dass im Grunde genommen bis zum Frühsommer 1941 bereits alle Elemente der NS-Massenverbrechen und auch ihre Praktiken etabliert waren und sich die Jahre danach in erster Linie durch die dann erreichte gigantische Dimension davon unterscheiden. Massenmord als Instrument der Besatzungspolitik war, das zeigen die Beispiele Polen und Jugoslawien, schon vor dem Überfall auf die Sowjetunion für die deutschen Besatzer ein probates Mittel.
Die quantitative Eskalation der Massenverbrechen mit dem Angriff auf Sowjetunion schildert Pohl ausführlich. Er setzt bei den umfangreichen Planungen ein, die hinsichtlich einer Hungerpolitik, dem Mord an bestimmten Gruppen von Kriegsgefangenen und der Aushebelung des Kriegsvölkerrechts schon vor den Kampfhandlungen begannen. Die dann praktizierten Massenverbrechen an den sowjetischen Kriegsgefangenen zum Beispiel stellt er detailliert dar. Er benennt dabei offene Fragen der Forschung und Unklarheiten deutlich. Überdies zeigt sich hier – wie auch an vielen anderen Stellen – der Vorteil einer Gesamtgeschichte der nationalsozialistischen Massenverbrechen: Pohl weist auf Parallelen wie auf zentrale Unterschiede hin. So waren die Verbrechen an den Kriegsgefangenen immer Gegenstand einer internen kontroversen Diskussion im deutschen Apparat. Das war bei der Ermordung der Juden so nicht der Fall und unterstreicht den hohen Konsens in diesem Fall. Auf die von Pohl in den folgenden Kapiteln geschilderten Massenverbrechen soll an dieser Stelle nicht im Einzelnen eingegangen werden: Er stellt die Ermordung der europäischen Juden dar, besonders auch die Entwicklung von lokalen Initiativen zu einem umfassenden Mordprogramm, das schließlich das gesamte deutsch besetzte Europa überzog. Die Verbrechen an Sinti und Roma, Terror und Gewalt gegen die Zivilbevölkerungen in Form von gigantischen Deportations- und Germanisierungsprogrammen, im Rahmen von und unter dem Vorwand einer Widerstandsbekämpfung, die Verbrechen in den Lagern, die während des Krieges erheblich ausgebaut wurden und andere Verbrechenskomplexe mehr stellt er einen nach dem anderen vor.
Im letzten Teil seiner Synthese wendet Pohl sich eingehend den „Akteuren und Strukturen der nationalsozialistischen Verbrechen“ zu – den Opfern, den Tätern und dem Umfeld. Die Probleme einer Abgrenzung zwischen diesen Gruppen, insbesondere zwischen Tätern und Umfeld, diskutiert er klar und nachvollziehbar. Abgerundet und abgeschlossen wird dieser Teil durch eine kurze Schilderung der historiographischen Interpretationen nationalsozialistischer Massengewalt, die sinnvollerweise erst hier und nicht zu Beginn des Bandes behandelt werden.
Den Handbuchcharakter des Bandes – wie aller Bände der Reihe – unterstreicht eine ausführliche Zeittafel, richtet sich „der Gebhardt“ doch in hohem Maße an Schülerinnen und Schüler sowie Studierende an den Hochschulen. Angesichts dessen ist es allerdings unverständlich, dass das Buch in der alten Rechtschreibung bzw. einer Mischform veröffentlicht wurde. Angesichts der räumlichen Dimensionen der nationalsozialistischen Massenverbrechen und der vielen, hierzulande wohl weniger geläufigen Orte wären Karten mehr als nur wünschenswert gewesen. So bleibt vieles, das steht zu fürchten, für etliche Leserinnen und Leser doch geografisch sehr im Abstrakten.
Diese Kritik schmälert jedoch Pohls Verdienst in keiner Weise. Ihm ist, das sei am Ende betont, eine überzeugende Synthese der nationalsozialistischen Massenverbrechen gelungen, die sich auf dem neuesten Forschungsstand bewegt.