Der 30. Juni 1934, die Ermordung von mehr als 90 Menschen vor allem aus der SA auf Befehl Hitlers, ist ein zentrales Datum in der Frühgeschichte der NS-Diktatur. Er markiert gewissermaßen die Schlussetappe der Etablierung der Diktatur und der Ausschaltung der Widersacher Hitlers innerhalb der NS-Bewegung sowie innerhalb des Regierungslagers, nachdem 1933 bereits die wirkliche Opposition brutal niedergeschlagen worden war. Lange Zeit wurden die Morde 1934 auch in Forschung und Schulbüchern der NS-Propaganda folgend als „Röhm-Putsch“ bezeichnet, mal mit distanzierenden Anführungszeichen, mal ohne. Sven-Felix Kellerhoff, Autor einer hier zu besprechenden neuen Monografie, bleibt bei der überholten Bezeichnung, die sich auf den damaligen SA-Führer Ernst Röhm bezieht, und unterstreicht sie gar mit einem Ausrufezeichen. Doch der Reihe nach.
Was am 30. Juni 1934 geschehen und was dem vorangegangen war, schildern die Autoren weitgehend gleich – die unterschiedlichen Vorstellungen vom Tempo und der Art der Machtdurchsetzung, die Rivalitäten und schließlich die Durchführung der Mordaktion selbst. Lediglich Konrad Heiden, der seine Darstellung 1934 im Exil niederschrieb, war wegen des eingeschränkten Informationszugangs weitaus mehr auf Spekulationen angewiesen. Sein Bericht besticht dafür jedoch dadurch, dass er die Perspektive eines kritischen Zeitgenossen enthält. Heiden hatte als Journalist der „Frankfurter Zeitung“ und später als Buchautor den Aufstieg Hitlers und des Nationalsozialismus in München aus nächster Nähe beobachtet. Kaum jemand kannte die NSDAP und ihre internen Rivalitäten besser als er. Mit dem 30. Juni verband er große Hoffnung, habe man die eigene Anhängerschaft doch bisher durch Massensuggestion gehalten, nun habe man zum Massenmord übergehen müssen. Dass sein Bericht nun leichter zugänglich ist, ist sehr erfreulich. Sven-Felix Kellerhoff hat ihn mit einem Nachwort versehen und – etwas selbstreferentiell – kommentiert.
Ohnehin zeigt sich im Fall Kellerhoffs, dass seine Wahrnehmung etwas selektiv ist. Dass Heidens Bericht „90 Jahre verschollen“ war, wie es im Klappentext heißt, kann noch als partiell ignorante Übertreibung abgetan werden. Dass jedoch auch die Ereignisse des 30. Juni 1934 insgesamt eines der großen Desiderata in der Geschichte des Nationalsozialismus seien, wie Kellerhoff in seiner eigenen Monografie behauptet, lässt sich so nur behaupten, wenn man eine Vielzahl von Studien zur Etablierung der NS-Diktatur oder der Geschichte der SA übersieht und einzig Monografien als Forschungsleistung anerkennen mag.
Derlei hat der ausgewiesene NS-Experte Peter Longerich nicht nötig, wenngleich auch er eher zwischen den Zeilen verwundert scheint, dass dieses „Zentralereignis in der Geschichte des ‚Dritten Reiches‘“ (S. 8) nicht früher schon Gegenstand von Monografien gewesen ist. Zentral war die Mordaktion sicher nicht wegen ihres blutigen Charakters; das NS-Regime hatte nach gut einem Jahr bereits viele Mordopfer gekostet. Vielmehr war es Zeichen und Katalysator für die Etablierung der SS als Machtzentrum des Regimes, ging diese doch als nunmehr eigenständige Organisation daraus hervor. Überdies markiert der 30. Juni weithin sichtbar den Rechtsbruch als Herrschaftsinstrument und besiegelte die schon über ein Jahr währende weitgehend widerstandslose Kumpanei von Wehrmacht, Justiz und konservativen Eliten mit dem NS-Regime. Nennenswerte Proteste gegen das Morden, das mit dem ehemaligen Reichskanzler Kurt von Schleicher oder Ministerialdirektor Erich Klausener auch reichsweit bekannte Konservative zum Opfer hatte, gab es keine – weder von der Wehrmacht noch aus den Reihen der Koalitionspartner Hitlers. Dass diese Morde nicht auf Berlin und Bayern, wo man die SA-Führung zusammengerufen hatte, sondern reichsweit stattfanden, machen Longerich und Kellerhoff eindrücklich deutlich. Dabei ist die Lektüre mitunter etwas beschwerlich, weil sie die einzelnen Morde akribisch durcharbeiten. Darin liegt aber zugleich einer der Vorzüge. Vor allem Longerich gelingt es hervorragend, die Informationsflüsse innerhalb der NS-Führung, der Apparate und der Presse nachzuzeichnen und so den Horizont der Zeit in die Darstellung zu integrieren. Kellerhoff schafft zusätzlich einen Überblick, indem er im Anhang alle namentlich bekannten Opfer, relevante Täter und Auftraggeber in einem Personenglossar mit Kurzbiografien vorstellt.
Dass mit den neuen Darstellungen nun auch Monografien zu den Morden des 30. Juni vorliegen, die das Geschehen in die Etablierungsgeschichte der NS-Diktatur einordnen, ist sehr zu begrüßen. Vor allem Longerich erschließt durch seine systematische Auswertung der Berichterstattung der Regierungspräsidenten, der Gestapo und anderer neue Dokumente, die die Ereignisse nicht in einem vollkommen neuen Licht erscheinen lassen, aber den Kontext aus Unzufriedenheit und Krisenstimmung im Vorfeld der Mordaktion klarer konturieren. Wer eine verlässliche historische Aufarbeitung und Einordnung des 30. Juni sucht, ist mit Longerichs Buch sicher sehr gut beraten. Sehr zu empfehlen ist, daneben Konrad Heidens zeitgenössische Analyse, die Longerich nicht berücksichtigt hat, dazu zu lesen. Sie macht einmal mehr deutlich, dass bereits damals der wahre Charakter Hitlers und des NS-Regimes durchaus weithin erkennbar war bzw. gewesen wäre. Man musste es nur wollen und kritisch hinschauen.
Konrad Heiden: Hitler rast. Die Bluttragödie des 30. Juni 1934. Ablauf, Vorgeschichte und Hintergründe. Freiburg u.a.: Herder Verlag, 2024. 159 S., ISBN 978-3-451-03479-4, 18,00 €.
Sven-Felix Kellerhoff: „Röhm-Putsch!“ 1934. Hitlers erste Mordaktion. Freiburg: Herder Verlag, 2024. 272 S., ISBN 978-3-451-39896-4, 24,00 €.
Peter Longerich: Abrechnung: Hitler, Röhm und die Morde vom 30. Juni 1934. Wien: Molden Verlag, 2024. 207 S., ISBN 978-3-222-15103-3, 28,00 .
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