Die Tore von Gaza
Eine Geschichte von Terror, Tod, Überleben und Hoffnung

„Ich wollte dieses Buch nicht schreiben“ (S. 389), gesteht der Journalist und Autor Amir Tibon am Ende des Buches. Dass er es dennoch getan hat, ist ein Glücksfall. Amir Tibon gehört mit seiner Frau und ihren zwei Kindern zu den Überlebenden des 7. Oktober im Kibbuz Nahal Oz, einem der ersten Orte, die die Hamas in den frühen Morgenstunden attackiert hat.

Der Kibbuz grenzt unmittelbar an den Gazastreifen, daher greift dort der Schutzschirm der israelischen Luftabwehr, des sogenannten Iron Dome, nicht. Die Bewohnerinnen und Bewohner des fast 500 Menschen zählenden Kibbuzes waren den Beschuss mit Mörsergranaten von Zeit zu Zeit gewöhnt. So schien es auch am 7. Oktober früh morgens nichts Ungewöhnliches zu sein als das vertraute Geräusch einer heranfliegenden Mörsergranate das Paar weckten. Innerhalb der wenigen Sekunden, die bis zum Einschlag blieben, eilten sie in den Schutzraum ihres Hauses, in dem die Kinder schliefen. Bald schon wurde klar, dass dieser Angriff mit den Routinen der Vergangenheit bricht. Zu massiv war der Beschuss. Geistesgegenwärtig holte Miri, Tibons Frau, in einer kurzen Feuerpause Wasser. Bald darauf war ersichtlich, wie ernst die Bedrohung war – zunächst waren Maschinengewehrsalven zu hören, kurz darauf Rufe auf Arabisch in der Nähe ihres Hauses, schließlich wurde auch auf ihr Haus geschossen. Kontakt nach draußen hatte das Ehepaar über ihre Handys, so dass sich über die WhatsApp-Gruppe des Kibbuz und durch Telefonate nach draußen langsam das Schreckensszenario immer schärfer abzeichnete. Begleitet wurde dies von der Sorge, die kleinen Kinder könnten ungeduldig werden, weinen oder anders auf die Familie im Schutzraum aufmerksam machen.

Amir Tibon schildert dies sehr eindringlich und verbindet die Perspektive der Familie im Schutzraum, ihre Ängste und ihre eingeschränkten Kenntnisse von dem, was draußen vor sich ging, mit dem, was später über die Abläufe bekannt wurde. Dazu gehört unter anderem die Information, dass der wegen eines Feiertags nur spärlich besetzte Armeeposten in der Nähe ebenso wie die anderen in der Region auch von der Hamas eingenommen und viele der dortigen Soldatinnen und Soldaten ermordet worden waren. Daher konnte die Familie zunächst nicht wissen, dass so schnell nicht mit Hilfe von außen zu rechnen war.

Sein Vater jedoch, ein pensionierter Generalmajor der israelischen Armee, hat sich gemeinsam mit seiner Frau auf den Weg gemacht, um der Familie zu Hilfe zu eilen. Sein Weg, der gezeichnet war von Kämpfen und immer wieder lebensbedrohlichen Situationen, ist ein weiterer Strang des Buches, der vieles eindrücklich vor Augen führt – das Versagen von Staats- und Armeeführung, die Hilflosigkeit der wenigen Kräfte vor Ort, aber auch den Mut und die Solidarität vieler Einzelner, die ungeachtet der Gefahren für das eigene Leben versucht haben, Menschen zu retten und die Terroristen zurückzudrängen.

Auch im Kibbuz gab es diese, man kann es kaum anders nennen, heldenhaften Menschen, die ihre eigene Sicherheit gefährdeten, um die Sicherheit der anderen so lange es geht zu verteidigen. Ilan Fiorentino, der Sicherheitschef des Kibbuz, war einer von ihnen. Er wurde von den Hamas-Terroristen ermordet. Ihm und vielen anderen setzt Tibon mit seinem Buch ein Denkmal.

In die dramatische Schilderung der Ereignisse jenes Tages schiebt Tibon in mehreren Kapiteln die Geschichte des Kibbuzes Nahal Oz ein. Gegründet 1953, war er einer von etlichen Kibbuzim, die in den Grenzregionen aufgebaut wurden, um als eine Art Vorposten die Sicherheit Israels zu gewährleisten und zu erhöhen. Was der sogenannte Nahost-Konflikt konkret bedeutet und welche Auswirkungen er auf das Leben der Menschen hat, wird in diesen Teilen des Buches anschaulich geschildert. Die Etablierung des Iron Dome zum Beispiel, die für weite Landesteile, wie jüngst immer wieder zu sehen, ein hohes Maß an Sicherheit brachte, bewirkte in Nahal Oz das Gegenteil. Immer wenn die Hamas ein Zeichen gegen Israel setzen wollte, geriet auch Nahal Oz verstärkt unter Beschuss. Dies zeigte sich beispielsweise, nachdem der damalige US-Präsident Donald Trump die Verlegung der US-amerikanischen Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem ankündigte. In Nahal Oz bedeutete dies mehr Raketenbeschuss als in den Jahren zuvor.

Amir Tibons Buch ist ein wichtiges, ein lehrreiches und ein berührendes Buch. Es zeigt den Schrecken des 7. Oktober eindringlich, bietet einen Einblick in die israelische Gesellschaft nach dem 7. Oktober und beleuchtet die Geschichte des sogenannten Nahost-Konflikts aus einer ungewohnten aber instruktiven Perspektive, aus der der Menschen in dem kleinen Kibbuz Nahal Oz wenige Kilometer vom Gazastreifen entfernt – aus einer Sicht vom Rand und aus dem Herzen des Konflikts zugleich.