Der diesjährige Almanach der Leo Baeck Institute widmet sich, wie könnte es auch anders sein, dem 7. Oktober, dem noch namenlosen Massenmord von Hamas-Terroristen und Zivilisten aus dem Gazastreifen an Israelis in angrenzenden Kibbuzim, Ortschaften, in Stützpunkten der Israelischen Armee und auf dem Nova-Festival in der Wüste. Zahlreiche Autorinnen und Autoren aus Israel widmen sich diesem einschneidenden Ereignis aus recht unterschiedlichen Perspektiven, die jedoch eins eint: In allen Beiträgen wird deutlich, dass die Morde des 7. Oktober – ihre Systematik, ihre Dimension und die Bestialität ihrer Durchführung – eine Wasserscheide sind. Es gibt seitdem ein Davor und ein Danach, doch stecken, auch das wird eindrücklich deutlich, viele Israelis und Jüdinnen und Juden weltweit noch mittendrin; für sie gibt es noch immer kein Danach. So gesehen sind einige der hier veröffentlichten Beiträge, wie auch Erzählungen und Berichte, die andernorts publiziert wurden und werden, Teil des Versuchs, diesen traumatischen Einschnitt zu verarbeiten und einzuordnen.
Die Bandbreite der Beiträge zu diesem überaus lesenswerten Band reicht von dem Überlebendenbericht Amir Tibons, der mit seiner Familie den 7. Oktober im Schutzhaus ihres Hauses in Nahal Oz in Todesangst verbrachte, über Eva Illouz‘ Auseinandersetzung mit einer bestenfalls empathielosen globalen Linken mit ihren Ikonen wie Judith Butler oder Arad Nirs kritischer Sicht auf die Flucht in Nazi- und Holocaust-Vergleiche in israelischen Medien und Teilen der Politik bis hin zu überaus eindrücklichen und aufschlussreichen Beiträgen über arabische und jüdische Communities in Israel und ihr Verhältnis zueinander unter anderem an der Universität Haifa (Daniel Mahla) und der israelischen Gesellschaft zwischen Protestbewegung und Solidargemeinschaft nach dem 7. Oktober (Andrea Livnat).
Aus diesen und vielen der weiteren Beiträge wird deutlich, was hierzulande nicht immer gesehen und noch weniger verstanden wird – die gesamte israelische Gesellschaft ist aus vielerlei Gründen tief traumatisiert: zuallererst wegen der Massivität und Dimension der Gewalt der Hamas, wegen der von ihr intendierten inhärenten Holocaust-Nähe des Ereignisses, der Ignoranz von Armee und Geheimdiensten den Vorbereitungen gegenüber, der Hilflosigkeit und stundenlangen Abwesenheit der Sicherheitskräfte. Neben diese gewissermaßen innerisraelischen Schockfaktoren treten weitere äußere – ein sich weltweit geradezu explosionsartig entladender Antisemitismus gepaart mit Ignoranz, Empathielosigkeit oder gar Leugnung der Verbrechen der Hamas am 7. Oktober beziehungsweise ihre Umdeutung zu einem vermeintlichen Akt des Widerstands. Die an Abgründen nicht arme Geschichte des Antisemitismus nach dem Holocaust hat seit gut einem Jahr neue Tiefpunkte erreicht, denen, das lehrt die Geschichte des ewigen Judenhasses, noch einige folgen werden. Und auch das Gefühl der Verlassenheit, das wohl ein Gefühl ist, das sehr viele Jüdinnen und Juden weltweit teilen, wird bleiben.
„Zuerst sind da keine Worte. Nichts als Beben, Schluchzen, Schweigen. Das Trauma ist ein Riss im Leben, ein Angriff auf das Denkvermögen. Die Rehabilitation des Denkvermögens setzt ein, sobald wir anfangen, den Dingen einen Namen zu geben, das Geschehene in Worte zu fassen“, schreibt die Schriftstellerin und Psychologin Ayelet Gundar-Goshen. Ihr Beitrag ist gleichsam ein Meta-Beitrag über den anderen Versuchen einer Einhegung des Schmerzes in diesem Band. Doch noch sind die Verbrechen jenes Tages ohne Namen, noch verharren die Überlebenden, ihre Angehörigen und die der Geiseln und der Toten und mit ihnen viele andere im Präsens des 7. Oktober. Dies besser begreifen zu können, ist kein geringes Verdienst dieses Bandes. Ihm ist trotz des relativ hohen Preises eine weite Verbreitung zu wünschen.