Bohemi
Prozesse der Identitätsbildung in frühpremyslidischen Ländern (bis 1200)

In der Absicht, „neue Einsichten in die Ausformung der Identitäten im przemyslidischen Herrschaftsgebiet zu gewinnen“ (S. 16), werden zunächst deren Genese, das Führungspersonal und ihre Siedlungsgebiete skizziert; mit der prinzipiellen Konzession, dass „irgendeine Konzeption der Geschichte dieses Raums zu formulieren […] eher mühsam“ (S. 91) ist. Versucht wird dies dennoch mithilfe von überlieferten Quellen des 10. – 12. Jahrhunderts in Kombination mit dazu bereits verfügbaren theoretischen Konzeptionen.

Im Hauptteil nehmen zahlreiche wie umfängliche Wiedergaben von lateinischen Quellentexten einen breiten Raum ein, mit beträchtlichen Proportionen in Relation zum Darstellungsteil. Allein dies gewährt bei der Lektüre den eigenen, prüfenden Vergleich mit den Auswertungen und Deutungen des Autors. Fast leitmotivisch muss aufgrund „des wackeligen Zeugnisses der Quellen“ (S. 98) der Charakter von Vagheit, bloßer Vermutung zugegeben werden. Allerdings unterstützt und geleitet dabei der Autor die Leserschaft als Experte mit Argumenten zu seiner „Logik der Quellendeutung“ (S. 99).

Mehr Eindeutigkeit sucht der Verfasser mithilfe seiner Vergleichsmethode zu erzielen: Aussagen von historischen Zeugen werden verglichen mit deren sonstigen Bildern von „andere[n] Ethnien“ (S. 57). Forschungsmeinungen werden diskussionsweise mit Versionen des Verfassers konfrontiert. Überhaupt wird substanziell in Bezug auf Identitätsbildung differenziert zwischen „Außenwahrnehmung und Selbstdarstellung“ (S. 92) der „Bohemi“. Im Kern werden narrative Quellen sowie Ereignisse sowie die Bildung des für die „Bohemi“ konstituierenden Mythologems um die Legende des Hl. Wenzel besprochen. Zuletzt kann das Selbstverständnis der Allgemeinheit der „Bohemi“ als solche für den Verfasser „nicht ganz eindeutig geklärt werden“ (S. 197); dies im Kontrast zur belegbaren eminenten Funktion dieser Identität für die Eliten.

Zu den Vorzügen vorliegender Darstellung gehört, quasi auf eine Erkundungsreise, samt der Nöte gesicherter Aussagen, mitgenommen zu werden. Sie ist stets quellengestützt, untermauert mit Belegen (vgl. S. 99). Der Autor verfügt über profunde Vorkenntnisse (ein Experte der „Kristianslegende“ als formativ relevanter Schlüsseltext der Mediävistik in diesem Raum). Bemühungen um Authentizität müssen vergeblich bleiben, wenn etwa ein Kronzeuge wie Cosmas von Prag in seiner „Chronik“ (vgl. S. 80) die in diesem Kontext so aufschlussreichen „Gnesener Ereignisse im Jahre 1000“ nicht erhellt, weil er sie „‚vergaß‘“ (S. 158).

Den Quellenbefunden nach wird der „Fürstenrang“ der przemyslidischen Fürsten und Bischöfe „nie bestritten“, und der Hl. Wenzel figuriert als „respektierte[r] Heiliger im damaligen Heiligen Römischen Reich“ (S. 103). Dennoch betont der Autor das „negative Bild vom ungehorsamen Barbaren“ in den „Reichsquellen“, eine „Entwürdigung der Bohemi“ aus kulturellen und religiösen Gründen (S. 196). Was laut Kalhous als „negative Abgrenzung“ auch „zur Formierung der frühmittelalterlichen Bohemi und Marharii“ beitrug (S. 79). Dass die Chronisten „die Vorstellung von der untergeordneten Stellung der przemyslidischen Fürsten gegenüber den Reichsherrschern“ „sogar akzeptierten“, „überrasch[t]“ Kalhous (S. 196).

Schwächen der Darstellung auf Kosten klarer Verständlichkeit sind mitunter: eine Syntax, die die Bezüge nicht eindeutig macht; eine irritierende Reihung von Fakten; Probleme der Übersetzung oder der Übersetzbarkeit; unklar bleibende Differenzen zwischen berichteter Zeit und Berichtzeit der erwähnten Quelle (Beispiel; vgl. S. 175).

Bei den Vergleichen sind die „Reichsquellen“ gegenüber jenen der „Bohemi“ in der Überzahl. Polnische Forschungsliteratur zeigt sich etwas eingearbeitet, weniger die ungarische. Weitere Vergleich mit Quellen der Nachbarn im Osten („Polen“) und Süden („Ungarn“) hätte der Identität der „Bohemi“ mehr Kontur gegeben. Sind es doch Ansichten wie die des zeitgenössischen Adam von Bremen, Sprache und Sitte der „Bohemi“ und „Polanen“ würden einander gleichen (vgl. S. 82), die mit derart einebnender Blässe die Nachweisbarkeit distinkter Besonderheiten der Nachbarn im Osten des „Reichs“ erschweren.

Angesichts bereits vorhandener Synthesen zur Historiographie der „Länder der Wenzelskrone“ mag das Ergebnis vorliegenden Werks enttäuschen, keineswegs aber die aus methodischer Akribie schöpfende Qualität. Zu ihr passt, dass die vielen sich aus der Quellenlage nun einmal ergebenden Lücken als solche ausgewiesen, nicht aber gefüllt oder – zu welcher Funktion auch immer – geglättet werden.