Die Slawen im Mittelalter zwischen Idee und Wirklichkeit

Bezeichnender Weise stellt der Verfasser das Ergebnis des der Neuzeit gewidmeten „Prologs“ als die für seine auf das Mittelalter bezogene „Fragestellung“ und sein „Vorgehen“ maßgebliche These voran: nämlich bis ins 20. Jahrhundert hätte keines der „Versuche einer slawischen Identitätsbildung und Gemeinschaftsstiftung jemals mehr als partikulare Ziele verfolgt“; entsprechende Vorstellungen konnten sich nicht „gegen die Egoismen der jeweiligen Nationalbewegungen durchsetzen“ (S. 41). Als ein Novum nimmt sich Mühle „eine zusammenhängende Analyse“ der „Slawen“ im Mittelalter zwischen einem „kulturalistischen Konstrukt“ und ihren „realen historischen Strukturen“ (S. 42/43) vor. Er überspannt die Zeiträume vom 6. bis zum 15. Jahrhundert. Somit ergibt sich die Dispositionslage von Mediävisten, einer bloß graduellen Fassbarkeit quellengestützter Aussagen gegenüberzustehen. Bis ins 10. Jahrhundert „fehlen slawischsprachige Selbstzeugnisse“; byzantinischen Dokumenten nach figurieren die bedrohlichen Slawen als „verwirrende Vielfalt fremder Kriegertruppen“ (S. 49).

In den offerierten etymologischen, semantischen Deutungsversionen des Signifikanten: „Slawen“ (vgl. S. 51/52) dominieren im Grunde monopolartig außenstehende Namensgeber, erscheint „der externe Slawenbegriff auf die Funktion eines Negativstereotyps eingeengt“ (S. 45). Nachdem Prozesse der „Slawisierung“ überhaupt bis zum 8. Jahrhundert „nicht befriedigend“ (S. 83) beschrieben werden können, gewinnen die „Slawen“ erst in seinen Kapiteln zu Nationswerdungen (samt ausgebliebenen), Reichsbildungen (samt abgebrochenen) diese selbst in ihren eigenen Ambitionen, Bedingungen und Bedürfnissen Konturen. Den Überhang der Fremdwahrnehmungen der „Slawen“ noch einmal bekräftigend, skizziert Mühle solche der benachbarten Kulturformationen: Byzanz, lateinisches Abendland, arabisch-muslimischer Orient.

Der Sachlage nach kann der Verfasser zu seinem thematischen Kernbereich erst kommen, als sich im Spätmittelalter einzelne Exponenten von politischen, staatlichen „slawischen“ Formationen (Böhmen, Polen) einerseits ausreichend nach innen konsolidiert sowie nach außen wirksam bemerkbar, als nicht zu übergehende Macht etabliert haben; dazu gehören auch Landschaften (Pommern; Mecklenburg; Kiewer und Moskauer Rus) und Großregionen (Südosteuropa).

Der Verfasser, der die „Erfindung“ einer Gemeinschaft ausdrücklich nicht als „Hirngespinste, sondern als Elemente eines für Teile der Gesellschaft zeitweise relevanten Diskurses eine tatsächliche soziale Realität“ (S. 438) sein lässt, kommt zu dem Schluss: „Ein umfassendes, alle Slawischsprechenden erfassendes Wir-Gefühl hat es im Mittelalter zu keinem Zeitpunkt gegeben.“ (S. 443) Mühles Hauptteil, unter Einarbeitung einer Fülle von Belegen, wohl mehr Sekundär- als Primärquellen (samt 5 Karten), dient der Argumentation genannten Fazits.

Die derart, auch leitmotivisch sich durchziehende strikte Zurückweisung jeglicher Gemeinsamkeit der „Slawen“ verwundert dann doch, zumal manche seiner Charakterisierungen dieses Urteil abzuschwächen erlauben: Im Frühmittelalter stellen die „Slawen“ „keine biologischen Abstammungsgemeinschaften“ (S. 48) dar, was wohl mehr eine Zuordnung als eine Zugehörigkeit indiziert. Ihrem „Kulturmodell“ schreibt er eine „hohe Attraktivität und Integrationskraft“ zu, das Mühle wie folgt charakterisiert: „Schlichtheit“; „geprägt von simplen, flexibel-angepassten Siedlungsmustern, den basalen Formen einer autarken Subsistenzwirtschaft“; eine „erstaunliche Aufgeschlossenheit gegenüber Fremden“ (S. 89/90); eine „sehr flache Hierarchie“ (S. 115). Letztere korrespondiert auch mit einer assimilationsgeneigten, flexiblen, permissiven und adaptiven Gemeinschaftsform.

Ein gesamtslawisches Überdachungspotential durch die konfessionelle Orthodoxie bleibt mangels „Ambitionen, den profanen Lebensbereich durch eigene politische Machtbildungen aktiv mitzugestalten“ (S. 251), ungenützt. In der Kiewer und Moskauer Rus, mit multiplen Herleitungssträngen von allein 16 Stämmen, sehen sich die dynastischen Eliten keineswegs „veranlasst, ein übergreifendes mittelalterliches natio-Bewusstsein auszubilden“ (S. 262).

Was bleibt ist die Kapazität zur Förderung eines übergreifenden Kollektivs durch sprachliche Verständigung: So ist es das Missionswerk der Byzantiner Konstantin-Kyrill und Method, das importierter Weise „zur markantesten Manifestation einer slawischen (geistlich-religiösen) Identität auf[stieg]“ und „bis heute erhebliche Teile der slawischsprachigen Welt prägt“ (S. 444). Für Mühle jedoch haben die Missionare eine „Kunstsprache“ kreiert, welche „die Differenz und Diversität“ der alltäglichen Sprachaufführungen „nicht fassen lassen“ (S. 170).

So wie Mühle die „Slawen“ beschreibt, sind sie genügsam, überlassen politische (Groß)Machtentfaltung lange anderen, erscheinen als mehr selbstbezogen. Jedenfalls darf die Leserschaft daraus folgern, dass dies besonders den verbreiteten Bedürfnislagen der „Slawen“ entsprach.