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Österreichische Zeitgeschichte – Zeitgeschichte in Österreich - WLA-Online - Wissenschaftlicher Literaturanzeiger
Österreichische Zeitgeschichte – Zeitgeschichte in Österreich
Eine Standortbestimmung in Zeiten des Umbruchs

Ohne Lesezeichenband enthält das voluminöse Werk wahrhaft ein Dickicht dessen, was mittlerweile dem Fach Zeitgeschichte (Sigle ZG) zugewachsen. Ausgewählte Aspekte wie der des Wandels der Dispositive (1), des Personals (2), der Fachdisziplinen mit ihren Themen (3) und der Austrozentrik (4) sollen systematisierte Schneisen bilden. Allem voran (1) ist es die schwindelerregende Abfolge von „Turns“ („cultural“, „visual“, „memorial“ u.a.), welche die ZG in Zugzwang brachten. Ebenso Zugzwänge unter internationalem politischen Druck zugunsten einer sozialmoralischen Rehabilitation (Restitution von Raubgut in der NS-Zeit) in den 90er-Jahren. Der Agenda der ZG, zum Zweck der Demokratiebildung im Nachnationalsozialismus in den 60er-Jahren gegründet worden zu sein, konnte so kongenial entsprochen werden. Ohnehin hatte diese „Mission“ in einem Staat, der sich bis in die späten 80er-Jahre als Opfer des NS-Deutschlands offiziell verstand, ihren Ruf als Stofflieferantin eines „Schwarzbuchs“ befördert.

Fixierungen auf übliche allgemeine Politikfelder wurden durch die Öffnung der West-Ost-Schranken und mit ihr die der Archive ab 1990, den Zuwächsen des globalen digitalen Datenbestands, der Dominanz von Medien sowie laufenden und stehenden Bildern, besonders jedoch die Virulenz der Gender-Kategorie gehörig zerstreut. Die ZG sieht sich konfrontiert mit einem Wust. Personell (2) sind es die Aktivitäten „der mittleren und jüngeren Generation“ (S. 9) von nun auch zahlreichen Zeithistorikerinnen. So manche von ihnen gehören dem Kreis jenes Forschungsbooms an, der einige Jahre aufgrund des staatlichen Auftrags zur Dokumentierung des NS-Raubs Dotierung wie Reputation des Fachs ZG lukrierte. Nach Auftragserledigung, Anfang der 2000er-Jahre, blieb ein Entzugssyndrom mit Orientierungsnöten nicht aus. (vgl. S. 509/510).

Veränderungen von Bedarfslagen haben in den letzten Dezennien neue Fachdisziplinen (3) auf den Plan treten lassen, die unter Verweis auf deren Expertisen zur aktualisierten Lösung akuter Themen sich der ZG hinzugesellen, hin(ein)drängen: Genannt seien zunächst jene, die sich dezidiert von einer „Austrolastigkeit“ lösen, emanzipieren wollen (vgl. S. 795). Ihnen, wie der „International History“, der „Queer History“, der „Europäistik“, der „Kulturwissenschaft“ ist, eigenen Angaben nach, gemein, „unendlich weite Forschungsfeld[er]“ (S. 214) abzudecken, eine „[g]roße Bandbreite“ (S. 220) aufzuweisen. Eine „Grenzenlosigkeit“ (S. 462), die der ZG zu schaffen macht.

Eine konstitutive Distanz zum Staat Österreich als solchem kann es für die 2004 anhebende „Visuelle Zeit- und Kulturgeschichte“ nicht geben. Diese geht allgemein von einer durch „moderne Bildmedien sozialisierte Generation“ (S. 462) aus. Die „Digital History“ verfährt jedenfalls transdisziplinär und multidisziplinär (vgl. S. 468). Damit geht eine Forschung zur Medienkompetenz, die die genuine Beschaffenheit von Bildern analysiert sowie Modalitäten des Sortierens von „Informationsmassen“ (S. 493) unterbreitet, einher, ohne die auch die ZG nicht auskommt.

Unter dem Etikett „post-colonial studies“ soll die Donaumonarchie in das Prokrustesbett einer „Habsburger Kolonialpolitik“ eingepasst werden. Inwieweit gewonnene Erkenntnisse den Verhältnissen einer synthetisierten Agglomeration von „Ländern“ in einem zusammengesetzten „Imperium“ dem landläufigen Begriff von „Kolonialismus“, einer „inneren Kolonisierung des Reichs“ historisch gerecht werden, bleibe dahingestellt. Der Versuch wird jedenfalls unter „(post-)migrantische(r), diasporische(r) und externe(r) Perspektive auf Österreich“ unternommen (S. 346). Eine zwar nicht vorausgesetzt affirmierende, wohl aber würdigende Rolle nimmt „Altösterreich“ in der „historischen Netzwerkforschung“ (S. 364) ein. Und zwar modellartig als „der Erfahrungsraum der Habsburgermonarchie“, der „Wirtschafts- und Gesellschaftsentwürfe produzierte, die in jeweils adaptierter Form bis heute Relevanz behalten haben“ (S. 356). „Public History“, in Österreichs (4) Öffentlichkeit aktiv, fordert den Akademismus der ZG heraus: sie lobt zwar ihre vergangene Funktion als Impulsgeberin, lehnt jedoch ihre Versteifung auf NS-Herrschaft bzw. Zweiter Weltkrieg ab, fordert überhaupt „niederschwellige“ Vermittlungsformen (S. 379).

Marcus Gräser schreibt der ZG einen beständigen „Österreichzentrismus“ (S. 14) zu, der verspannt ist mit „Nation Building“ (S. 11). Eine regelrechte Streitkultur bezüglich ZG-Themen ortet er hierzulande nicht, was als spezifisch gelten könnte. Dazu passt: die „Gründergeneration“ der ZG ist einer „‘Koalitionsgeschichtsschreibung‘ verpflichtet“ (S. 30); lange überwiegt das von der politischen Linken geprägte „Forschungsfeld Arbeitergeschichte“ (S. 25/26); die etablierten Parteien schreiben ihre Parteigeschichte nach Gutdünken selbst, ohne deren Synthese im Gesamtstaat (vgl. S. 512/531).

Die „Lagertheorie“ (gemeint ist der angeblich unüberwindliche Antagonismus von: „sozialdemokratisch“, „christlich-sozial“, „national“) als „weitverbreitete Fehldeutung“ (S. 83) zu verwerfen, kommt im Kontext mit dem mittlerweile diagnostizierten allgemeineren „politischen Desinteresse“ (S. 47) der Jahre vor 1933 einer erheblichen Korrektur gleich. Im Vergleich dazu hat für das museale Schaufenster im aktuellen „Haus der Geschichte Österreich“ in Wien, laut seiner Direktorin, „ein idealer Begriff für die Jahre 1933/1934 bis 1938“ (S. 818) noch keinen (Parteien)Konsens gefunden. Den Bannkreis von Präfaschismus und Faschismus hat die ZG schon längst verlassen. Sie widmet sich dem Rechtssystem, dem Tourismus, den Institutionen, im Falle der Wirtschaft und der Umwelt über Österreichs Grenzen hinaus.

Merklich hinter sich gelassen hat allgemein die ZG Zugriffe unter vorgebahnten, dogmatischen Ideologien. So etwa im Zuge einer „neomaterialistischen Wende“ die eher neue Allianz von ZG und Wirtschaftsgeschichte, befasst mit der „Kolonisierung von Natur“ unter kapitalistischer „Verwertungslogik“ (S. 610/612). Generell konzeptualisiert Umweltgeschichte „Industrialisierung“ different zu Theoriebildungen der Historie (vgl. S. 628). Parallelen des Fachs ZG in der BRD bzw. Deutschland und in Österreich lassen sich finden (vgl. S. 197). Jedoch gab und gibt es gesonderte staatliche Bedarfslagen. Ein jüngstes Beispiel ist der 2021 erfolgte Schwenk des Schwerpunkts „ZG“ der „Österreichischen Akademie der Wissenschaften“ (ÖAW) zu einem „zur Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraumes“ (S.13).

„Umbruch ist immer“, (S. 9) gemahnt Marcus Gräser, und selbst Phasen sich überschlagender Ereignisse laufen der ZG weniger den Rang ab als diesen aktuell zu fixieren. Die ZG, so wie hier multiperspektivisch beschrieben, is still lasting in transition; befasst mit der nunmehrigen „Epoche der Mitlebenden“ (S. 53).