Das Private im Ghetto
Jüdisches Leben im deutsch besetzten Polen 1939 bis 1944

Die von der historischen „Schule der Annales“ aus Frankreich angestoßene „Geschichte des privaten Lebens“ wird hier auf „Transformationen des Privaten“ (S.33) in vier Ghettos (große in Warszawa, Łódź; kleinere in Piotrków Trybunalski, Tomaszów Mazowiecki) in Polen während der deutschen Okkupation angewendet. Der Abriss eingangs zum Vorleben der sowohl Ein- wie auch Weggesperrten dient vornehmlich der sozialen, räumlichen wie kulturellen Heterogenität der Juden in der Vorkriegszeit; genau auf dieses Vorleben werden sie dann auch nach der jähen Absonderung zur Lebensbewältigung durchaus erfolgreich referieren (vgl. S. 118). Zur Analyse wählt Haas die für alle relevanten Kategorien von „Zeit“ und „Raum“.

Heißt es in einer bemühten Tagebuchnotiz eines Zeitzeugen: „die Zeit vergeht trotz der Monotonie so schnell“ (S. 113), passt dies in das hier gezeichnete Bild von mannigfaltigen Betätigungen, die auch im Abschnitt „Raum“ benannt werden: Delogierungen, Zwangsarbeitseinsätze, Schmuggel, Parkaufenthalte, improvisierte Veranstaltungen, Spaziergänge. Letztere sind es auch, welche das so begehrte wie rare Gefühl von Intimität, eine „Illusion von Privatheit“ (S. 176) gewähren, während der Kampf um das Für-sich-Sein (Kap. „Alleinsein“) überwiegt; die verzweifelt wirkende Briefstelle: „‘Werde ich jemals [kiedys] eine Minute für mich haben?! Niemals!!! [Nigdy!!!]‘“ (S.209) zeugt davon.

„Eine besondere Form des Alleinseins war das Schreiben von Ego-Dokumenten und das stille Lesen“ (S. 252), heißt es, und für Haas stellt „die Praxis des Schreibens“ den „Kern“ (S. 324) des Privaten im Ghetto dar. Und zwar mit der Funktion, „ein Gegengewicht zu Chaos und Willkür“ herzustellen, einem „Bedürfnis nach Ordnung und Struktur“, dem insbesondere mit der Tradierung von „Routinen“ versuchsweise entsprochen wurde (S. 325). Diesen Üblichkeiten entsprechen die hier erwähnten Hochzeiten, Scheidungen, sexuellen Beziehungen oder deren Unterlassungen aus Kalkül, Fälle von Solidarität und Streit. In einem exemplarischen Fall „funktionierte der Familienverband dennoch einigermaßen leidlich“, und für Haas sind die „Vielzahl von Konflikten“ (S. 283) „in gewisser Weise normal“ (S. 286). Der Religion, besonders als „Strategie der Ermutigung“ (S. 309), zur Orientierung in Umständen von äußerst diffiziler Fassbarkeit, wird ein eigenes Kapitel gewidmet. Nachdem „Residuen des Privaten“ sich erhielten, so der Autor zum Schluss, wurde Privatheit nachgerade „zu einem Maßstab für die Qualität der Gegenwart“ (S. 326). Im gegebenen Kontext liest sich dies wie eine Gegenwartsvergewisserung, eine Art Lebensversicherung (allerdings ohne Versicherungsschein).

So sehr Haas das Private konstitutiv für die Existenzsicherung sein lässt, es bleiben dennoch zwei Aspekte unberücksichtigt: Zwar mutmaßt er richtig Zurückhaltungen, Aussparungen bei der Beschreibung von Intimität (vgl. S. 300), also eine Dezenz in den Egodokumenten. Er ortet Schreibblockaden angesichts unbeschreiblicher Umstände (vgl. S. 230). Aber seine dezidierte Verweigerung (vgl. S. 214) einer minimalen texthermeneutischen Analyse führen Motive des Schweigens nicht auf psychische Überforderung durch Schmerz zurück. So legt etwa eine hier zitierte Tagebuchstelle die Artikulierung der Persönlichkeitsbedrohung durch Schmerzüberflutung äußerst nahe: Im poetisch wiedergegebenen Traum, in dem die Verfasserin sich von Ängsten (in Bezug auf ihre deportierten Geschwister unbekannten Verbleibs) verfolgt zeigt, darf nicht einmal der imaginierte stumme Traum beredt werden; denn, wenn „[…] die stummen Träume enden […]“ (S. 233), misslingt die Abweisung des Schmerzes.

Eine deutlichere Akzentuierung dessen, dass das ganz Persönliche in einem fast gleichzeitigen Widerfahren und Bewältigung von Traumatisierung bestand, könnte das „Paradoxon des permanenten Ausnahmezustandes“ (S. 280) entscheidend erhellen. Außer Betracht bleiben auch die polnischen Menschen, die eine Parallelgesellschaft, wenn auch unter sehr unterschiedlichen Graden von Drangsalierung, außerhalb der Ghettos bildete. Nur marginal ist von Kontakten und Handel (vgl. S. 281,332) mit ihnen die Rede, während allein die registrierende Wahrnehmung der polnischen Nachbarschaft an sich, wenn auch segregiert, die (tröstliche) Hoffnung auf ein Weiterleben zu nähren half.

Vorliegende Analyse weist die eminente Funktion nach, die die Fortführungselemente eines Privatlebens für die Ghettobewohnerschaft erbracht haben: Während die deutschen Besatzer durch ihre Desorganisation die Lebensorientierung der Juden permanent irritierten, nur auf deren Verwertung aus, haben die Eingeschlossenen den Anfechtungen eines moralischen Verfalls getrotzt; kontrastiv anders, als es das NS-Urteil vom „jüdischen Untermenschen“ und in seiner Konsequenz dessen Behandlung plausibilisieren hätte sollen.