Italien und Österreich im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit / Italia e Austria nella Mitteleuropa tra le due guerre mondiali

Die Komplexität von Interessens- und Konfliktlagen erklärt die bislang nicht „tiefgreifende[n] Untersuchungen“ (S. 13) zu vorliegendem Thema, umrissen in der Einführung (M. Giuotto): Italien steht als Siegerstaat dem Verlierer Österreich nach einem „grundsätzlich antiösterreichische[n]Krieg“ (S. 19) gegenüber; Österreich ist von den Signatarmächten der Friedensverträge „als Stütze des schwachen europäischen Gleichgewichts, insbesondere zur Eindämmung Deutschlands“ (S. 29) gedacht; eine Schaukelpolitik Italiens hatte bereits gegenüber dem Habsburgischen Österreich Tradition (vgl. S. 17); Italien mit Aspirationen einer Großmacht sieht Österreich als „Zugangstor für Expansionspolitik“ (S. 24).

Entsprechend eben skizzierter Ausgangslage, widmet sich das Team zweisprachig den Themen der damals virulenten integrativen Gestaltung eines zentralen, mittleren, mittelöstlichen, Donauland - Europa, den bilateralen Beziehungen der darin involvierten Staaten, den Kalkülen und Zwängen, soweit diese sich in der Innen- und Außenpolitik zeigen. Als Quellen dienen (Handels)Verträge, Kulturzusammenkünfte, oftmalige persönliche Stellungnahmen Mussolinis, vor allem der diplomatische Verkehr; nicht wenig davon bilden (geradezu konspirative) Geheimnoten. – Überhaupt hat sich das Team vorgenommen, hinter die Kulissen der (teilweise Hoch-)Spannungszone Italien-Österreich blicken zu lassen; auch, etwa mit Bayern und dem Vatikan, auf Begleitakteure.

Vorteilhaft bieten die gemischtstaatlichen Beiträge überwiegend einen Blickpunktwechsel; so wenn einmal der SHS-Staat oder Polen und Österreich aus italienischer, dann Italien aus ungarischer oder Österreich und Italien aus bayerischer Perspektive beleuchtet werden.

Als stupend, paradox mag einem das turbulente Allianzgeschehen zwischen Italien und Österreich erscheinen. Die Niederlage (Alt-)Österreichs, der Verlust Triests samt Küstenland, vor allem aber Südtirols, erzeugte „eine weitverbreitete Feindseligkeit der Bevölkerung Italien gegenüber“ (S. 410). Tatsächlich wog aber dieses „Ressentiment“ (S. 17) für gewisse „altösterreichische Eliten“, in deren Händen Industrie, Handel und Banken, geringer. Deren „aggiornamento“ mit dem „vicine dissimile“ (S. 39), in der Absicht Rechte der Arbeitnehmerschaft drastisch zu beschneiden, ließ benannte Kreise im „‘Verräter‘ Italien einen Protektor“ sehen (S. 349; L. Höbelt). Zudem bot sich als Stütze, als Balance in der europäischen Mächtekonstellation in notwendiger wie auch erlaubter Weise („Anschlussverbot“ an Deutschland) Italien geradezu an; begünstigt noch durch die Entwicklung zu einer genuin österreichischen, mit Italien nur bedingt vergleichbaren (vgl. S. 417), Variante des Faschismus. So lange, bis der Führung Österreichs „nur mehr die italienische Karte“ (S. 411; H. Wohnout) blieb.

Im Dienst oben genannter Balance, zur Wahrung seiner staatlichen Souveränität, kam es 1922 zu einer (Genfer)Völkerbund-Anleihe an Österreich. Italien als Mitsignatarstaat stellte ebenfalls diesbezügliche Kontrollorgane und nutzte, was als Sanierungsmaßnahme gedacht, das Mandat als Gelenkstelle, die „eine Stärkung oder eine Schwächung der Wirtschaft Österreichs“ (S. 463) zu regulieren verstand. Dabei bediente es sich eines mit Sprache und (Geschäfts-) Mentalität Österreichs vertrauten Personenkreises aus Triest (Wirtschaftseliten aus der Zeit der Donaumonarchie): augenscheinlich „brutale Nationalisten“ (S. 470; P. Cuomo). Auch Verträge mit dem Drittstaat Ungarn dienten Österreich wirtschaftlich kaum (vgl. S.473-475).

Der päpstlichen Diplomatie war der Erhalt Österreichs kein vornehmliches „Ziel“ (S. 304; A. Gottsmann); und J. Scholtysek fasst die prekäre Lage zusammen: Österreich, „aus der Konkursmasse der Habsburgermonarchie hervorgegangen“, war „im Wesentlichen nur ein Objekt der Begierde und zum autonomen Handeln kaum fähig“ (S. 201).

Den Begierden folgen Verwirrspiele um politische Ambitionen, und die oft kurzsichtigen, ja kontraindizierten Kontrakte, einander überschneidenden Kalküle werden hier besonders angepeilt. Vor allem Widersprüche: Generell bei Mussolini, nämlich „eine Linie des Erhaltens des Satus quo und eine revisionistische Linie gleichzeitig verfolgen zu wollen“ (S. 28). Die Hauptakteure täuschen sich in den widerstrebenden Kräften: Fordert der „Duce“ „die Stärkung des österreichischen Staatsgedankens“ (S. 383) von einer Gemeinschaft in pionierhafter Renovationsphase, konstruiert Bundeskanzler Dollfuß „eine Vereinigung aller patriotischen Kräfte unter dem Dach der [auch faschistischen; Anm. Verf.] Vaterländischen Front“ (S. 391) als Gegenwicht zum Nationalsozialismus. Schon deshalb erscheinen die überbordenden Aspirationen Mussolinis in ihrer „‘lauernden Doppelbödigkeit‘“ (S. 408), sind die in ein Korsett gezwängten österreichischen Politiker „undurchsichtig“ (S. 360), erpicht auf „einen passenden Vorwand“ (S. 367).

In der wirtschaftlichen und politischen Durchdringung der Donauländer (Ungarn, dem SHS-Staat) durch eine Föderation, stellt sich die Außenpolitik Italiens als den größtmöglichen Versuch dar, das Habsburgerreich nach Brauchbarkeit zu beerben. Vornehmlich geht es dabei um den Hafen Triest als Drehscheibe des Handels. Eigens den Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zwischen Italien und Österreich gewidmete Beiträge erhellen den Griff nach den Rohstoffen Holz, Wasser und Eisen des nördlich angrenzenden Staates.

Mitte der Dreißiger-Jahre verflüchtigt sich für das Team das vitale Verhältnis Italien-Österreich. – Mit dem Abessinien-Krieg (1935) hat sich Italien schließlich auf eine ganz offene Form von Kolonialismus verlegt. Eine Erklärung für die auffällig vornehmlich Österreich geltenden Sympathien im Sammelbeitrag könnte sein, dass bei Auswertung vorliegender Quellen man womöglich schließt: Italien als Staat war dem Staat Österreich im Beobachtungszeitraum gut mitzuspielen nicht oder nur sehr bedingt bereit.

Da nur zwei Beiträge in Übersetzung aufscheinen, kann man sich aufgrund von gewissen semantischen Abweichungen ein eigenes Bild machen.  – Heißt es etwa: „Mussolini cominciò a sopravvalutare le proprie capacità politiche e a pensare di essere uno statista di rilevanza mondiale“ (S. 168), so hat das Italienische ‚statista‘ im Deutschen die Bedeutung von ‚Staatsmann‘.