1917
Österreichische Stimmen zur Russischen Revolution

Die vorliegende „kommentierte Quellenedition“ (S. 41) ist gerichtet auf Ereignisse in einem engen Zeitrahmen während der Phase von wohl drei Russischen Revolutionen, hier jene von 1917/18.

Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf den, staatlich besehen, besonders explodierenden wie implodierenden Geschehnissen in Russland. Allerdings ist die von der Autorin kalkulierte Hauptsache der spezifisch durchschlagende Reflex bei Angehörigen der Habsburgermonarchie auf besagte „Umwälzungen“ (S. 62). Der nahezu parallel sich entwickelnde sozialpolitische Umbruch in beiden Staaten, die Wechselwirkungen dabei, bilden das eigentliche Thema. Die Auswahl der ‚fremden‘, da ‚österreichischen Blicke‘ (vgl. S. 46) auf die chronologisch arrangierte Sukzession der Entwicklung, weist, zusammen mit der Quellenbasis (überwiegend Österreichisches Staatsarchiv) in Form von „staatlichen“ Perspektiven (S. 62), auf die wesentliche Intention dieser Zusammenstellung hin: mit Engführungen, Überschneidungen sowie Gegensätzen bezüglich zweierlei Arten staatlicher Kollapse vertraut zu machen.

Mit Bedacht verleiht Moritz ihren „Stimmen“ größtenteils zum ersten Mal öffentliche Publizität, wobei der kriegsgefangene Austromarxist Otto Bauer eine hervorstechende Ausnahme bildet. Dessen Funktion als Zeuge, Chronist, politischer Diagnostiker und Visionär angesichts eines für Zeitgenossen noch völlig unwägbaren Geschehens, wird durch seine Zeitungsartikel sowie kommentierende Einflechtungen der Autorin genützt; zusammen mit der spezifischen Rolle dieses exponierten Politikers der Sozialdemokratie als Gegenstand des Beitrags von Wolfgang Maderthaner, fungiert Bauer gleichsam als Gerüst der Gesamtdarstellung und seines interpretatorischen Angebots: Wie für Bauer „treiben“ auch für Moritz die revolutionären Ereignisse „Wien regelrecht vor sich her“ (S. 27), sind diese letztlich auch „mitverantwortlich“ (S. 39) für das Ende Österreich-Ungarns.

Darüber hinaus hält sich die Kommentatorin mit Urteilen merklich zurück. Sie beschränkt sich auf verweisende „Orientierungshilfen“ (S. 65), „Kurzbiografien“; die Aussagen der ‚Stimmen‘ stellt sie, gegliedert nach Quellengattung („Militärische Quellen“, „Diplomatenberichte“, „Pressemeldung“), in entsprechende Kontexte.

Indem sie in der Aneinanderreihung von berichtenden Einschätzungen durchaus auch konträre Positionen offeriert, nimmt Moritz, allerdings seltene, Korrekturen vor, stellt „krasse Fehldeutung“ (S. 177) fest oder lenkt beispielsweise die Lesart solcherart, dass eine für die Sozialdemokratie alleinig zu reklamierende Friedenspolitik „nicht im Interesse der österreichischen Regierung“ (S. 179) lag.

Ansonsten wird eine Chronik ablaufender, je nach Verfasser erwünschter, erwarteter, be- und verurteilter Ereignisse unterbreitet. Zugleich wird der besondere Gewinn des Auswahlprinzips der Quellen deutlich, deren Inhalte durch zeitliche Dichte sowie geringe Distanz zum Geschehen aufgrund persönlicher Betroffenheit charakterisiert sind. Zur Sprache kommen allerseits ‚vorläufige‘ (vgl. S. 123), rein transitorische Zustände: symptomatisch sind dabei etwa die „früher gut gehaltenen Strassen Petersburgs heute mit den zu hügeligen Gletschern zusammengeballten Schneemassen vieler Wochen bedeckt“ (S. 122). Die Schilderungen vermitteln das Bewusstsein von Brandaktualität sowie einer Zusammenballung von Ereignisketten; das Gefühl elementarer Kalamität wird spürbar, als deren Reaktion existenzielle Unsicherheit sowie die grassierende Produktion von Stereotypen in Bezug auf die ‚russische Mentalität‘. So manche Aussagen weisen über die künftige Entwicklung hinaus; so heißt es etwa über die Zustimmung von Kriegsgefangenen zu den ‚Sowjets’, dass „das magyarische und reichsdeutsche Element das größere, die österreichischen Slaven mit Ausnahme der Tschechen das kleinere und die deutschen Oesterreicher ein verschwindendes Kontingent stellen“ würden (S. 136).

Mit Arthur Schnitzlers Begriffsprägung „Revolutionspsychose“ lässt Moritz ihren Untersuchungszeitraum sowie Kommentar abrupt enden. Nicht zuletzt soll diese Metapher auf die radikalen politischen ‚Epidemien‘ der Folgezeit vorausdeuten, deren Genese verständlich zu machen die Autorin darüber hinaus auch beabsichtigt.

Für Moritz „war es vor allem die starke Sozialdemokratie, die revolutionäre Tendenzen eindämmte“ (S. 39); mit ihrer Sammlung nährt sie ebenfalls die Schlussfolgerung, dass nach den Erfahrungen der Menschen im sich auflösenden Österreich-Ungarn mit den die Revolution in Russland signifizierenden Ausformungen, letztere überwiegend als negatives Vorbild fungierten.