Musikerhandschriften von Heinrich Schütz bis Wolfgang Rihm

Zum Festbeißen

Der Rezensent teilt seine Bücher grob in zwei Kategorien ein: Bei der ersten wird das Umblättern immer schneller, wobei oft ein ganzes Faszikel überschlagen wird. Bei der zweiten setzt allmählich ein Prozeß des regelrechten Festbeißens ein, und das Buch wird ungern aus der Hand gelegt, so wie der Süchtige ungern ein halbvolles Glas stehenläßt. Zu letzterer Sorte Buch gehört der vorliegende Band. Schon der graphisch verzwickt gestaltete Schutzumschlag läßt innerlich aufhorchen, und zwar im wörtlichen Sinne: Denn zwei äußerst divergente Musikautographen sind darin zu einem auf den ersten Blich verwirrenden Linienspiel zusammenmontiert. Aber mit jeder gelesenen Seite wird der Blick klarer, nicht nur für das Notenbild, sondern auch für den Komponisten, der hinter dem Autographen steht. 80 musikalische Schöpfungen werden beschrieben und mit einer Abbildung illustriert. Der Text, verfaßt von kompetenten Musikwissenschaftlern, gibt Auskunft nicht nur über die Entstehung des Werkes, sondern auch über die biographischen Begleitumstände; und oft genug wird dabei der Wunsch geweckt, die eigenen Kenntnisse über den Komponisten zu vertiefen oder zumindest aufzufrischen.

Die Auswahl der Autographen – wie sollte es auch anders sein! – ist natürlich sehr subjektiv und spiegelt einerseits den Stolz des Herausgebers auf seinen „Hausschatz“ wider: 52 der 80 Handschriften finden sich in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, der Günter Brosche vorsteht. Andererseits kann diese Präponderanz auch daran liegen, daß der Zugriff auf „fremdes“ Material immer schwieriger ist als auf eigenes. Trotzdem fällt zweierlei auf: Nur eine einzige Komponistin ist vertreten, die den Abschluß der Sammlung bildet, so daß der Titel des Buches eigentlich lauten müßte: „...bis Sofia Gubaidulina“. Es scheint sich hiermit wieder einmal das Vorurteil auszudrücken, daß das Komponieren den Männern überlassen werden sollte. Und zweitens fällt auf, daß nur musikalische Schöpfungen der „Alten Welt“ berücksichtigt sind. Eine Erklärung für dieses Phänomen fällt dem Rezensenten nicht ein.

Beim Vergleich der Autographen sticht ins Auge, daß jeder Komponist nicht nur seine individuelle Hand-, sondern auch Notenschrift besitzt. Ein Prinzip der formalen Erscheinung kann dabei herauskristallisiert werden: Je „ätherischer“ oder „chaotischer“ die Musik wird, desto klarer wird ihre Notation. So bieten Chopin, Debussy und Ravel ein gestochen scharfes Schriftbild, und besonders beeindruckend ist eine Partiturseite von Boulez, der mikroskopisch klein, aber durchaus lesbar seine Musik mit Hilfe von 38 Systemen notiert. Schon Schönberg hatte ja sich selbst und seine Schülern diese Klarheit der Notation abverlangt.

Alles in allem liegt mit diesem Buch ein sehr gelungenes Werk vor, das endlich die Lücke bis zu der vorhergehenden Sammlung von 1961 (M. Hürlimann: Musikerhandschriften von Schubert bis Strawinsky) schließt und sogar noch retrograd erweitert. Trotzdem hat der Rezensent noch einen Wunsch für die nächste Auflage: Eine Kurzbiographie – und wenn auch nur in Stichwörtern – über die Mitarbeiter diese Bandes wäre angebracht, da diese die Autographen i.d.R. mit einem kongenialen Text begleiten.