Von der Barmherzigkeit zur Sozialversicherung
Umbrüche und Kontinuitäten vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert

Die Krise der Sozialversicherungssysteme in vielen Ländern der alten Welt lenkt den Blick der Historiker vermehrt auf die verschiedenen Organisationen, die sich in der Geschichte in ganz unterschiedlicher Form der kranken, invaliden und alten Menschen angenommen haben. Der vorliegende Band, der auf eine Tagung der Schweizerischen Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte zurückgeht, umfaßt die gesamte Breite dieser organisierten Hilfe für Arme, Kranke und Alte, wobei für die Frühe Neuzeit die Armenfürsorge und Caritas in Form des kommunalen Armenwesens und der kollektiven Daseinsvorsorge der Zünfte im Vordergrund stehen. Mit der Vergabe von Armenunterstützung waren in der Regel Disziplinierungsversuche der Obrigkeit verbunden. Neuere Ansätze nehmen ebenfalls die von verschiedenen Gruppen der Untertanen ausgehenden Maßnahmen zur Disziplinierung bzw. Sozialkontrolle in den Blick, z.B. die der Zünfte, der Nachbarn und Verwandten. Mit Recht wird in dem Buch bemängelt, daß der Historiker die Selbsthilfe, die alle übrigen Formen der Hilfe bei weitem überragt, in ihren Analysen kaum einmal berücksichtigen, wogegen sie neben den kommunalen Maßnahmen die Caritasleistungen von Kirche und Adel und die in Stein gewordenen Institutionen wie Spitäler und Altenheime in den Vordergrund schieben. Dieser Versuchung konnte auch dieser Sammelband nicht ganz entgehen, und von den 13 Beiträgen zur frühneuzeitlichen Armenfürsorge beschäftigen sich elf mit dieser Form der Hilfe. Das Themenspektrum reicht vom Luzerner Armenwesen über die Aktivitäten von Spitälern bis hin zu den Zünften und Gesellenvereinen.

Der zweite Teil besteht aus einer Analyse des Sozialstaats in der Schweiz. Die 15 Beiträge reichen von der Professionalisierung der Sozialarbeit am Beispiel der Tuberkulosefürsorge über Fabrikärzte bis zur Geschlechterordnung innerhalb der sozialpolitischen Diskussion. Die Autoren gehen ein auf den Einfluß des Beveridge-Plans auf die sozialpolitische Diskussion in der Schweiz sowie auf die in der Forschung recht stiefmütterlich behandelten betrieblichen Pensionskassen. Hervorzuheben ist das von M. Lengwiler gewählte Erklärungsmodell für die Konstitution der Sozialversicherungen, wobei die Bedeutung von institutionellem und sozialem Wissen im Mittelpunkt steht. Er zeigt, wie in der Schweiz politisches Handeln sich in dieser Frage auf wissenschaftliche Expertisen stützte, um opponierende politische Kräfte zu neutralisieren und zu integrieren. Damit wurde das Expertenwissen zu einer politischen Vertrauenstechnologie. Nach Lengwiler standen bei der Konstitution des Sozialstaats zwar die soziale Frage und die politischen Konfliktparteien im Vordergrund, doch die eigentlichen Akteure waren die Experten der frühen Sozialwissenschaften. Alle Beiträge zusammen vermitteln einen guten Einblick in das Schweizer Modell der solidarischen Absicherung und bieten zahlreiche methodische Anregungen.