1914-1918
Der Erste Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg bildete den Anfang eines modernen dreißigjährigen Krieges, der letztlich noch brutaler, vernichtender und unmenschlicher verlief als das Schlachten drei Jahrhunderte zuvor. Es ist daher nur folgerichtig, daß sich die Historiker wieder stärker den Anfängen dieser unseligen Zeit in den Jahren 1914 bis 1918 zuwenden. Am umfassendsten hat dies in jüngster Zeit sicherlich David Stevenson getan, Professor für Internationale Geschichte an der London School of Economics. Seine knapp 800 Seiten starke Studie, Ergebnis zwanzigjähriger Forschungen, hat bereits in Großbritannien viel Anerkennung erfahren. Sie zeichnet sich aus durch eine profunde Analyse der Politik und Geheimdiplomatie der am Krieg beteiligten Mächte Deutschland, Österreich, Frankreich, Großbritannien, Rußland, Italien und USA. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den militärischen Strategien beider Seiten, auf der Taktik, der Waffentechnik und dem Verlauf der großen Schlachten. Dagegen bleiben die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen, die Probleme der Industrie und der Menschen in den jeweiligen Ländern eher Randphänomene. Eine Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Ersten Weltkrieges ist diese Untersuchung nur sehr bedingt, eine Alltagsgeschichte überhaupt nicht. Dies soll jedoch den Wert dieses Buches keinesfalls schmälern.
Stevenson beginnt mit der Vorgeschichte des Krieges. Während die Wirtschaft sich weltweit immer mehr vernetzte, wurde gleichzeitig der Friede immer brüchiger und die Großmächte verfügten mit ihren neuen Waffen und ihrer wirtschaftlichen Stärke über ein Potential, wenn auch nicht unbedingt die Absicht, einen großen Krieg zu führen. Der Widerstand dagegen wurde immer geringer, und die Staatsmänner gewannen zunehmend die Überzeugung, die Öffentlichkeit werde einen Krieg mittragen. Nach Sarajevo war der Krieg zwar für keine Regierung eine Ideallösung, aber alle waren eher bereit, einen Krieg zu riskieren, als klein beizugeben. Die Deutschen zogen in den Krieg gegen England und Rußland, obwohl sie nur eine sehr vage Vorstellung darüber hatten, wie der Sieg zu erringen sei. Ebenso wie Deutschland fürchteten Rußland, Frankreich und Österreich, im Falle der Untätigkeit ihre Großmachtstellung zu verlieren. Gleichzeitig jedoch konnte sich keiner der Beteiligten auch nur im Entferntesten vorstellen, wie verheerend ein solche Krieg mit modernsten Waffen sein würde, daß es letztlich nur Verlierer geben könnte und ein Sieg ohne Wert wäre.

Einer der Schwerpunkte des Buches liegt auf der Schilderung und der Analyse des Kriegsgeschehens an der Front, wobei der Autor ausführlich auf Ausrüstung, Taktik, den Verlauf der Schlachten, die auf beiden Seiten begangenen Fehler sowie die erlittenen Verluste eingeht. Er zeigt die vernichtende Wirkung des Maschinengewehrs, die im Verlaufe des Krieges entwickelte und verfeinerte Taktik der Artillerie, die lernte, mit ihren Feuerwalzen der Infanterie voranzugehen. Zur Sprache kommt sehr ausführlich die Taktik der englischen und deutschen Kriegsflotten, die sich in der Nordsee neutralisierten, wobei die englische Flotte relativ spät ihre größte Wirkung mit der Blockade der Handelsschiffe erzielte und außerhalb von Europa die deutsche Handelsflotte in neutralen Häfen festhielt. Wiederholt geht der Autor auf die Wirkung der neuen Waffen ein. Er spricht den erstmals eingesetzten Tanks wegen ihrer Schwerfälligkeit und Reparaturanfälligkeit noch jede Bedeutung ab, ebenso den Flugzeugen, während der Einsatz von Gas ohne kriegsentscheidende Wirkung blieb. Trotz aller Probleme, die sich bei allen größeren Eingriffen ins Feindesland ergaben und zu dem lang andauernden Stellungskrieg führten, ging der Krieg weiter, weil die Gebietsgewinne der Mittelmächte von den Entente-Mächten nicht geduldet werden konnten, ohne ihre Niederlage einzugestehen. Seit 1915 erhöhten beide Seiten die Gewalt, ohne die bestehende Pattsituation beenden zu können.

Breiten Raum nehmen die Ausführungen über die Probleme Frankreichs und Großbritanniens seit der Eskalation des Krieges im Jahre 1915 ein. Ein weiteres Schwergewicht des Buches liegt auf der Phase des Krieges, als die Russische Revolution, die französischen Meutereien nach der Nivelle-Offensive und der Ausweitung des U-Boot-Krieges durch die Deutschen die Entente-Mächte in die Defensive drängten, sich die Finanzierungsprobleme der Briten dramatisch verschärften und selbst der Kriegseintritt der USA scheinbar zu spät kam. Auch nach dem Kriegseintritt der Amerikaner war der Sieg der Alliierten keineswegs eine ausgemachte Sache. Erst im Dezember 1918 wendete sich das Blatt, als die Alliierten ihre Angriffe an der Westfront koordinierten und in breiter Front angriffen, während im Sommer desselben Jahres noch die Gefahr bestand, daß die Deutschen Paris erobern könnten und Rußland verloren ging. Gleichzeitig gelang es vor allem den Briten, in Makedonien und Palästina die Bulgaren und Türken zurückzuschlagen, während im Oktober die Österreicher in Italien den Rückzug antreten mußten. Als den Hauptgrund für die immer weitere Eskalation des Krieges bezeichnet der Verfasser die Unfähigkeit der Politiker beider Seiten zu Verhandlungen, wobei die Unfähigkeit auf die Unvereinbarkeit der politischen Ziele zurückzuführen ist, die während des Krieges im Grunde nie revidiert wurden.

Eher am Rande verdeutlicht der Verfasser, wie es überhaupt möglich war, einen derartigen Krieg über vier Jahre hinweg durchzustehen. Neben der Finanzierung des Krieges durch den Druck von Banknoten und die Kreditaufnahme bei der Bevölkerung war es die Technik der Fließbandmontage, die die einzelnen Länder befähigte, mit Hilfe von Frauen riesige Mengen an Waffen zu produzieren, ohne dabei die Truppenstärke zu reduzieren. Die Fortschritte der Medizin bei der Heilung von Wunden und der Abwehr von Krankheiten stellten die Einsatzbereitschaft der Armee sicher und verringerten den Druck auf die Politiker, sehr bald Frieden zu schließen.
Neben den mit hohem Sachverstand vorgetragenen Schilderungen von Technik, Kämpfen und politischen Entscheidungen sowie den zumeist eigenständigen Analysen versteht es der Autor, bei den Lesern Emotionen zu wecken. Er schildert die menschenverachtenden Strategien von Generälen und Politikern, die bei Großoffensiven des Jahres 1918 fast nebenbei den Verlust von einer Million Menschenleben im Voraus einplanten, für die der Sieg alles und der Mensch nichts bedeutete. Wo Stevenson von Politikern berichtet, geraten seine Schilderungen und Analysen zu einem Aufmarsch von Versagern, die im Vorfeld des Krieges, während des Krieges und erst recht nach dem Waffenstillstand allesamt fast alles falsch gemacht haben, was falsch zu machen war. Dies gilt auch für den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, der mit einem hehren Friedensprogramm antrat, um anschließend trotz seiner sehr starken Position in den Verhandlungen mit den anderen Siegermächten seine Prinzipien Stück für Stück fallen zu lassen. Der Autor schildert die beteiligten Politiker als eine Garde alter Männer, die die Jugend Europas aufforderte, sich mit breiter Brust den Kugeln des Feindes entgegen zu werfen und als Helden für das Vaterland zu sterben, während sie selbst nicht einmal den Mut aufbrachten, dem sinnlosen Schlachten in Verhandlungen ein Ende zu bereiten. Ein mitreißendes Buch, das traurig und wütend macht, eine Pflichtlektüre für alle Hindenburgs, Haigs und Rumsfelds dieser Welt.