„Sie sind ein Hunderttausendstel des Gesamtbildes des Holocaust, die anderen Geschichten liegen in den Massengräbern“ (S. 10), schreibt Ivan Lefkovits im Begleitheft zu der von ihm herausgegebenen Serie von Holocaust-Erinnerungen, die jüngst in 15 Heften im Jüdischen Verlag erschienen ist. Dass diese Berichte überhaupt überliefert und nun in so schöner Gestaltung vorliegen, verdankt sich einer privaten Initiative in der Schweiz. 2006 fand sich eine kleine Gruppe von Mitgliedern der „Kontaktstelle für Überlebende des Holocaust“, die mit Unterstützung von Studierenden des Faches Jüdische Studien an der Universität Basel begannen, Überlebenden bei der Niederschrift beziehungsweise Überarbeitung ihrer Erinnerungen zu helfen. Die erste Serie, die als Privatdruck erschien, war rasch vergriffen. Jahre später, 2014, traf Lefkovits zufällig Gerhard Richter, der ihm die Gestaltung der Cover einer Neuausgabe versprach. So kommt es, dass nun auf jedem der 15 Hefte ein eigens für den jeweiligen Bericht ausgewählter Ausschnitt aus einem vierteiligen großformatigen Birkenau-Zyklus des Künstlers zu sehen ist.
All die verschiedenen Berichte erzählen von der Verfolgung in Ungarn, im Deutschen Reich, im besetzten Polen, vom Leiden in Lagern wie Auschwitz-Birkenau, Warschau, Skarżysko Kamienna, Ravensbrück und anderen, aber auch vom Kulturleben im Getto Lodz/Litzmannstadt und von der Rettung durch einen Kindertransport nach England. So sehr sich dabei die Schilderung mancher leidvollen Erfahrung während der Deportation beispielsweise oder der Ankunft im Lager auf den ersten Blick gleichen mögen, so unterschiedlich sind die Zeugnisse bei genauerem Hinsehen doch. Liest man sie in rascher Folge hintereinander entfaltet sich vor dem Leser ein Panorama des Grauens in Mitteleuropa, das weit hinter uns zu liegen scheint und doch, das machen die Werke eindrücklich deutlich, so nah ist und dessen Folgen auch heute noch wirken. Berührend ist es, immer wieder zu sehen, wie fest sich die Autorinnen und Autoren an die wenigen materiellen Erinnerungsstücke klammern, die ihnen von einst großen Familienverbänden als einziges geblieben sind, wie diese eine Stütze sind auf dem schwierigen gedanklichen Weg zurück in die eigene Vergangenheit. Diese liegt für jeden einzelnen von ihnen nicht weit zurück, begleiten die grauenvollen Erinnerungen sie doch heute noch beinahe täglich, auch wenn manche über Jahrzehnte geschwiegen haben.
Fast alle Überlebenden, die hier erzählen, ringen um Worte für die Beschreibung des Schreckens und ihrer Gefühle im Angesicht dessen, was sie in den Lagern sahen und was ihnen widerfuhr. „Wie kann ich das alles beschreiben?“, fragt sich Peter Lebovic. „Wie kann man Hunger, Demütigung, Schläge, Angst, Schmutz, all die Grausamkeiten, die ganze Atmosphäre schildern? Es ist kaum möglich in Worte zu fassen, wie ich mich fühlte, als ich Läuse hatte, die Sterbenden, Erschlagenen gesehen habe? Wie kann man den beissenden Gestank der schwarzen Rauchschwaden von brennenden Leichen in Auschwitz ausdrücken?“ (Heft 3, S. 7). Die Schwierigkeiten, Ausdruck für das Leid zu finden, und die Schmerzen, die ihre intensive Erinnerungsarbeit hervorrufen, konnten die Überlebenden nicht davon abhalten dennoch zu erzählen. Sie verspürten oft einen großen Druck, Zeugnis abzulegen stellvertretend für all die Ermordeten in ihren Familien und für all die Getöteten darüber hinaus: „Meine schwache Stimme ist durch diese Zeilen stark geworden. Anstelle der sechs Millionen, die nicht mehr aussagen können, kann ich meine Geschichte erzählen“ (Heft 7, S. 42).
Die hier versammelten Zeugnisse entfalten nicht nur ein überwältigendes Panorama des Grauens aus einer schrecklichen Vergangenheit, die mitunter als längst bekannt abgetan wird, in der es aber durch jeden einzelnen Bericht immer wieder Neues zu erfahren gibt. Überdies zeigen sie eindringlich die nachhaltigen und bis heute wirkenden Zerstörungen, die die Nationalsozialisten und ihre Helfer im Leben jedes einzelnen Verfolgten angerichtet haben. Diese tiefsitzenden Zerstörungen wirken umso tiefer, als die hier berichtenden Überlebenden Ausgrenzung, Verfolgung und Massenmord als Kinder und Jugendliche erlebt haben.