Österreich 1989 als „‚Hotspot‘“ (S. 192)? – Auf jeden Fall lag es „an der Schnittstelle der Veränderungen“ (L. Kiss; S. 410), und nutzte die Gunst der Stunde, indem es die „Rolle eines Initiators“ (S. 415) wahrnahm. Dank der Vorgeschichte einer „aktive[n] Neutralitätspolitik“ (S. 405), wurde Österreich von den ‚Ostblockstaaten’ „viel eher als andere westliche Staaten als progressiver Akteur“ (S. 407) angesehen.
Das Ansinnen des federführenden Projektteams ist, die diesem Jahre folgenden Veränderungen „vergleichend darzustellen“ (S. 12), „zielgerichtet einige Schlaglichter zu werfen“ (S. 14), mit Österreich im Zentrum. Zusammen mit der ‚Meinungsumfrage 2011’ als CD-Beilage verstehen sich die präsentierten Ergebnisse „als Impulsgeber für weitere Grundlagenforschung“ (S. 44), als transitorische erste Zwischenbilanz, die unter Abwendung von einem „nationalen Blick“ einer angepeilten „transnationalen Perspektive“(S. 507) zuarbeiten wollen. Daher ist der Gehalt vorliegender Skizzen so profund, weisen sie doch auf, was einer staatsübergreifend konvergierten Beurteilung dieses Schlüsseljahres alles im Wege steht. Als eine der wichtigsten Barrieren erscheint „eine Trennung zwischen der Geschichte der europäischen Integration und der Transformation in den Staaten Ostmitteleuropas“ (A. Siebold; S. 286).
Dem Erinnern nachhelfen möchte jener Beitrag, der an die Kooperation, ja das paktartigeVorgehen von Ungarn und Österreich bei der Brückenbildung für DDR-Staatsangehörige in die BRD gemahnt; erklärlich nur „aufgrund der historischen Bindungen“ (S. 416). L. Kiss führt auf die prekäre Quellenlage zurück, „dass Österreichs Rolle im Grenzöffnungsprozess ziemlich unvollständig dargestellt wird“ (S. 408). Dies ist nicht ursächlich für die zahlreichen Feststellungen eines „unterschätzten Beitrag[s][Österreichs] zur Öffnung“ (S. 242): Österreich figuriert nicht als „Akteur“, sondern als „Transitraum für reisende EU-Bürger“, „Transitraum für Migranten“ sowie „Projektionsraum jeweils eigener nationaler Perspektiven“ (S. 285 f.); es erscheint „marginalisiert“ (S. 182 und 302).
Würdigungen folgen dem auf dem Fuße: Österreich hätte sehr wohl „europäische Geschichte geschrieben“ (M.Gehler; S.162), mit dem „Donaueuropäischen Institut“(O.Kühschelm) schon Jahrzehnte ökonomische wie kulturelle Vorarbeiten geleistet; die Wirtschaftsstatistik(F. Breuss) vermeldet eine Steigerung des „Produktions- und Außenhandelspotential[s] um rund ein Zehntel“ (S. 71), einen „Turbo“ (S. 92), der ohne „Teilnahme Österreichs an allen EU-Projekten schwer bis gar nicht erklärbar“ (S. 108) ist.
Der aus der ‚Außenperspektive’ heruntergespielte Stellenwert Österreichs bedeutet nicht es sei überspielt worden: So finden sich hier viele Belege für handfeste Eigeninteressen, zum Beispiel (als regionaler Hauptinvestor) ein „aktives Lobbying für eine Aufnahme der westlichen Balkanstaaten“ (O. Schwarz; S.326);demgemäß bezeugt die mitgelieferte detaillierte Umfrage (CD) das „Wissen um [den eminenten Profit sowie dessen] Voraussetzungskette“, nämlich „dass dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 größere Bedeutung beigemessen wird als dem EU-Beitritt 1995“ (S. 43). Einen regelrechten „Wendepunkt“ (S. 474) in Gestalt eines ‚Erinnerungsortes’ „für die österreichische Geschichte“ stellt allerdings das Jahr 1989 „nur marginal oder gar nicht dar“ (S. 472), was als Manko „für den nationalen Zusammenhalt“ (S. 473) nicht zufällig vom Geschichtsdidaktiker C. Kühberger beklagt wird. Zwar versuchten gedächtnisbildende Instanzen (politische Festakte, Medien, Museen) der „Konstruktion eines europäischen Gedächtnisortes“ (A.Brait) zum Durchbruch zu verhelfen. Für einen nationalen, gar transnationalen Konsens haben jedoch zu sehr „die Umwälzungen alle ineinander[ge]griffen“ (S. 490), deren übersichtlicheBündelung sich angesichts der „multiple-bind“-Situation Österreichs als schwierig erweist.Letztere müsste mehr ergeben als eine formelhafte Kennzeichnung von 1989 als einem ‚Dammbruch’ mit Österreich in der Funktion des – nolens oder volens –‚Schleusenwärters’. – Etwa ist, indem aus den direkten und ferneren Nachbarländern Menschen dauerhaft in Österreich Wohnung bezogen haben (vgl. S.102), angesichts der „schleichend[en] Ostöffnung“ (S. 473) von einer Verschränkung von Mentalitäten auszugehen.
In der vorliegenden Bestandsaufnahme stellt ein Katalog von ‚antislawischen Stereotypen’ keinen Exkurs dar, vielmehr eine notwendig Auflistung, was an Ressentiments aktuell in Österreich noch im Kurs ist (E. Bruckmüller; vgl. S. 63). Allerdings wachsen diesen durch aktuellere Ereignisse Modifizierungen zu: etwa durch das Erkalten der Sympathien für Ungarn (vgl. S. 30) sowie eine negative Bewertung bestimmter Nachbarstaaten aufgrund ihrer Asylpolitik. – Die notgedrungen hier unberücksichtigten Folgeereignisse von 1989 zeitigen, dass das Team sich von vornherein einer Aufgabe mit einem wandelbaren Ziel gewidmet hat. Was die Brisanz seiner Ergebnisse noch erhöht.