Ein Akademieprodukt wie dieses kann und soll auch Staatstragendes erwarten lassen, und meint in diesem Fall den (momentanen) Ausdruck staatlichen Selbstverständnisses wie eines Eigenbefunds der historischen Innung.
Eine ganze und eine halbe voneinander entfernte Generationen der Österreich betreffenden Historiographie haben hier ihre entsprechend (zwischen)bilanzierenden Ergebnisse ihres Forschungslebens vorgelegt, auf Konzept und spezifisch methodische Durchführung sich auswirkend. – Da gibt es zuhauf stafettenartig generative Übernahmen von besonderen Forschungsfragestellungen, wie etwa jene zur ‚sozialen Frage‘, von Wolfgang Häusler zu Werner Drobesch. Die Herkunft der BeiträgerInnen zeigt, gegenüber früheren Bänden aus der vorliegenden Reihe, auch den Aufholprozess an nachgewachsenen Kompetenzen in Mehrsprachigkeit für ein Objekt wie das der Habsburgermonarchie, sodass diese auch ‚exportiert‘ werden können (etwa H. Grandits). – Dass jene Ungarn gewidmeten Teile oft separiert, gegen die sonstige Linie einer Gesamtschau, aufscheinen, trägt, historisch korrekt, dem Umstand Rechnung, dass es ein ‚so Hüben so Drüben der Leitha‘ oftmals nicht gab, Transleithanien einen Reichsteil sehr anderer Bedingungen figurierte.
Der Blick auf das Ganze in diesem voluminösen Werk erweist sich jedoch als insofern erhellend, weil er ausbreitet, was einem wahren Panorama die Sicht verstellt und so eine Überschau erst ermöglicht; entsprechend geprägt ist er durch Vorläufigkeit sowie Jeweiligkeit.
Regional- und nicht nur kronländerweise Besonderheit gibt es aufgrund der „Vielfalt von Familienstrukturen“(W. Heindl, S. 716), der ‚Aristokratie‘(M. Řeznik, S. 1041), diversen Ausformungen des Antisemitismus (M. Rozenblit); überhaupt ist es das synchrone „Bestehen moderner und anachronistischer Formen der Vergesellschaftung“, die „eine komparatistische, die Gesamtheit der Monarchie umfassende Sozialgeschichte“ (P. Eigner, S. 456) so schwierig macht.
Vorläufig bleiben so manche Einsichten, wo ‚Sprachbarrieren‘ die mangelnde ‚Zugänglichkeit von Forschungsergebnissen‘ eine Meso- und Mikrohistorie erschweren (O. Kühschelm, S. 850), der Konnex zwischen nationaler und Geschlechteridentität (W. Heindl, S. 723), die numerische Stärke ‚konfessioneller Milieus‘ (R. Klieber, S. 751), ‚emotionale Innenwelten‘ und ihr ‚Verhältnis zu sozialen Praktiken‘(Kühschelm, S. 877) noch viel genauer zu bestimmen wären. – Die Bewältigbarkeit der Materie schimmert dennoch durch das noch Unbewältigte durch.
Überwunden allerdings ist jener ideologiegeleitete Begriff von ‚Klassen‘, hier bloß als „Merkmalsgruppe, in sich beliebig unterteil- und differenzierbar“(E. Bruckmüller, S. 811), vorgestellt, somit untauglich, die Varietät sozialer Gruppen, wie auch jene der ‚Arbeiter‘(J. Kořalka, S. 813) zu benennen. – Erst so werden wenig verbreitete Erkenntnisse gewonnen, wie etwa, dass „die Herausbildung einer stabilen Arbeiterklasse“ regional „manchmal drei bis vier Jahrzehnte“ dauerte (S. 846), oft erst die Lohnarbeit die Trennung der Familien provozierte (vgl. S. 844).
Die Beiträge argumentieren prononciert, dass sich Generalisierungen verbieten: So muss etwa in den Relationen zwischen ‚Bürgerlichkeit‘ und ‚Staat‘ stets „die Ambivalenz des Verhältnisses in Rechnung gestellt werden“(Kühschelm, S. 895). Verallgemeinerungen können andererseits auch fachlich erlaubt, ja geradezu geboten sein: Zur österreichisch-ungarischen Diplomatie heißt es pauschal: „Die Geschlossenheit des außenpolitischen Machtapparates bildete wiederum einen Garanten des supra- und multinationalen österreichisch-ungarischen Staatsgebildes bis zum Ende der Monarchie“(W.D.Godsey, S. 1261).
In synthetisierender Absicht bleibt die sehr wohl facettenreich unterbreitete Synthese aus, weil fachlich nicht gerechtfertigt; der Verlockung, die Entität, eine ‚habsburgische Gesellschaft‘ in dieser einen Sozialgeschichte einer Epoche der Habsburgermonarchie zu behaupten, unterbleibt. - Pragmatik ist eine hervorstechende, aber bei weitem nicht die einzige Qualität dieses Kompendiums. Mit dem – vorläufigen – Erkenntnisgewinn, dass das Ganze doch weniger ist als die Summierungssuche nach seinen Teilen. Den Charakteristiken der Jeweiligkeit der auch zwischengesellschaftlichen Verhältnisse Österreich-Ungarns, wird das Werk auskunftsreich gerecht.
Gerade als Grundlage für weitere einschlägige Forschungen, hat die Präsentation dieser ‚Sozialen Strukturen‘ das Zeug zum Standardwerk.