Verantwortlichkeit - nur eine Illusion?

Als Handelnde wird uns die Urheberschaft von Handlungen zugeschrieben. Wir gehen mit Menschen und Dingen um; setzen Regeln, beschließen Gesetze, helfen oder unterlassen Hilfe. In der Regel werden wir für unsere Handlungen auch zur Rechenschaft gezogen und wir sind nicht selten in der Lage unsere Handlungen zu rechtfertigen. Wer Kinder hat, ist verantwortlich für deren Wohlergehen, wer gar Firmenchef ist, trägt Verantwortung für die Belegschaft. Ein Passagierflugzeug zu fliegen gilt ebenfall als verantwortungsvolle Aufgabe, da dem Piloten Menschenleben anvertraut werden. Richter, Wissenschaftler und Mediziner üben verantwortungsvolle Tätigkeiten aus. Die Kategorie der Verantwortlichkeit ist konstitutiv für unsere soziale Praxis. Ist diese Verantwortlichkeit aber möglicherweise eine Illusion? Wäre sie dies, so wäre auch die Freiheit eine Illusion, also etwas Unbegründetes.
In ihrem Sammelband haben Thomas Fuchs und Grit Schwarzkopf eine interdisziplinäre Debatte dokumentiert, die sich mit Grundlagen, Zweck und Konsequenzen der Verantwortlichkeit befasst. Die Kategorie der Freiheit bildet dabei den permanenten Kontrapunkt. Aus Neurobiologie, Philosophie, Ethik, Rechtswissenschaften, Theologie und Medizin kommen Autoren zu Wort und legen ihre je fachspezifische Perspektive auf das Problem der Verantwortlichkeit sowie der Freiheit dar.

Der Sammelband ist jedoch alles andere als ein Kessel Buntes. Denn statt die Beiträge einfach nach Disziplinen zusammenzustellen oder nach Aspekten zu ordnen, welche ihrerseits nach Belieben zu sortieren wären, folgt der Sammelband einer klaren systematischen Struktur. Gleich zu beginn findet eine Reflexion darauf statt, was in diesem Sammelband geschieht bzw. welcher Zweck damit verfolgt wird; welche Mittel zur Verfügung stehen und was man von diesen erwarten kann. Wo - zumindest theoretisch - der Hase im Pfeffer liegt zeichnet Ekkehard Felder in seinem Beitrag 'Semantische Kämpfe - Die Macht des Deklarativen in Fachdiskursen' nach. Kongenial zu Felder expliziert Klaus-Peter Konerding mit seinem Beitrag 'Symbolische Formen ' Macht und Grenzen menschlichen Wissens' die sprachphilosophischen, erkenntnistheoretischen sowie wissenschaftsphilosophischen Grundlagen der im Sammelband dokumentierten Debatte. Konzepte bzw. Begriffe wie 'Freiheit' oder 'Verantwortlichkeit' unterliegen semantischen Festlegungen, sie sind eher normative Entwürfe zwecks Rekonstruktion praktischer Verhältnisse als deskriptiv erfassbare Entitäten. Daher sind sie 'sprachlich konstituierte Sachverhalte'. Für den Begriff 'Freiheit' sowie den Begriff »Verantwortlichkeit« ist daher ein semantischer Kampf unausweichlich, wie Felder am Beispiel einer kurzen Diskursanalyse bezüglich der Diskussion um den Begriff der Willensfreiheit zeigt, indem er das jeweilige Vokabular sowie die jeweilige Argumentationsstrategie der Beteiligten (Bieri, Roth, Wabel) untersucht. Semantische Kämpfe, wie sie zwischen einander widersprechenden Wissenskulturen entbrennen, werden geführt, um erstens eine bestimmte 'sprachliche Zugriffsweise im öffentlichen Diskurs etablieren zu können' und zweitens damit eine spezifische Perspektive der sprachlich konstituierten Sachverhalte zu bestimmen' (14). Die Relevanz dessen wird deutlich, wenn man sich, wie Konerding, verdeutlicht, dass es 'damit um die Grundlagen unserer modernen Gesellschaftsformen, um die zugehörige Ethik, ihre fundamentalen Voraussetzungen, ihre Postulate und ihre Konsequenzen' (62) geht.

Erst anschließend werden die Bedingungen der Entscheidungsfindung aus neurobiologischer Perspektive dargelegt und diskutiert. Selbstkritik in aufklärerischer Hinsicht übt dabei der Neurowissenschaftler Andreas Draguhn, der die Möglichkeiten und Grenzen der neurobiologischen Forschung darlegt. Einer vollständigen Naturalisierung des Geistigen wirft er 'eher eine Ideologie als eine real belastbare wissenschaftliche Sachaussage' (119) zu sein vor. Es fragt sich allerdings ' und dies betrifft den semantischen Kampf, der in diesem Sammelband ausgetragen wird ' ob die so genannte traditionelle Auffassung von der Willensfreiheit, gegen die Autoren wie Herrmann, Dürschmid, Roth und Pauen argumentieren, jemals vertreten worden ist. Dieser Auffassung gemäß wären Willensentschlüsse völlig unbedingt und die handelnde Person eine Art unbewegter Beweger. Und folglich müsste die handelnde Person auch 'Herr seines Willens' (167) sein und diesen gleichsam willentlich hervorbringen ' womit wir in einen infiniten Regress geraten, wie Roth richtig bemerkt. Roth hält an dieser Konzeption der Willensfreiheit jedoch fest und schlägt eine prinzipielle Abkehr von den Kategorien wie Schuld und Strafe vor, da mit der Widerlegung der Willensfreiheit diese Kategorien keinerlei Grundlage mehr haben.

Thomas Fuchs führt seinen semantischen Kampf mit ganz anderen Mitteln. Er setzt auf eine Reformulierung des Freiheitsbegriffs, der der leiblichen Person gerecht wird. Daher spricht er auch nicht von Willensfreiheit, sondern von personaler Freiheit, um der Verantwortlichkeit ein Fundament zu geben. Für Handlungs- bzw. Entscheidungserklärungen hat dies weitreichende Konsequenzen, da die Systemgrenzen verschoben werden. Statt zur Erklärung von Entscheidungen oder Handlungen den Blick allein auf das Gehirn zu legen, müssen wir die 'ganze persönliche Lebensgeschichte des Handelnden' (205) in Anschlag bringen. Dies bedeutet auch, dass wir die handelnde Person in ihren affektiven, kognitiven wie auch kommunikativen Erfahrungen analysieren müssten. Ein Neurozentrismus kann daher den Begriff der Freiheit nicht adäquat reflektieren, zumal er einer soliden Phänomenologie personaler Freiheit nichts entgegensetzen kann.

Auf die phänomenale Ebene personaler Freiheit in strafrechtlicher Hinsicht weist Hillenkamp eindringlich hin, indem er (a) zeigt, inwiefern strafrechtlich relevante Entscheidungen keine Naturereignisse sind, denn dort findet ein Abwägen nach Gründen statt, und dass (b) auch eine Tötungshandlung von einer Täterin als eine für sie richtige Handlung gelten kann, für welche sie die Verantwortung zu übernehmen bereit ist. Angesichts dessen wäre zu überlegen, inwiefern eine Theorie personaler Freiheit um die Dimension des Institutionellen erweitert werden müsste.

Indem sich sämtliche Kontrahenden auf den semantischen Kampf um die Kategorie der Verantwortlichkeit einlassen, belegen sie zugleich einen verantwortungsvollen Umgang mit ihr. In diesem Sinne kann Verantwortlichkeit keine Illusion sein, sondern vielmehr laufen wir ' wie Eilert Herms betont ' ständig Gefahr, uns 'Illusionen über unsere Verantwortlichkeit' (253) zu machen. Den Herausgebern ist ein kontroverser, informativer, anregender und verantwortungsvoll strukturierter Sammelband gelungen.