Die Fragen 'was ist der Mensch?' und 'was ist Kunst?' stellen denjenigen, der sie zu beantworten hat, vor schwerwiegende Probleme. Nicht umsonst kursieren in der Philosophie mannigfaltige Antwortangebote. Die Familienähnlichkeit zwischen beiden Fragen hinsichtlich der Beantwortungsschwierigkeiten könnte man auch als Hinweise darauf nehmen, dass sie zusammengehören könnten. Wenn die Frage nach dem Menschen gestellt ist, so könnte ein Ausflug in die Ästhetik sich als hilfreich erweisen, ebenso wie ein Exkurs in die Anthropologie die Frage zu beantworten helfen könnte, was Kunst sei. Von diesem Interdepedenzverhältnis geht Ernst Stöckmann aus und legt in überzeugender Weise dar, wie diese beiden Themenkomplexe zumindest für Theoretiker der Aufklärungszeit zusammengehören. Anders als gegenwärtige anthropologisch orientierte Ästhetiken, wie sie im Rahmen Evolutionärer Ästhetik und Neuroästhetik vorliegen, thematisiert die Aufklärung den anthropologischen Hintergrund ästhetischer Wahrnehmung nicht als ein Produkt der biologischen Evolution ' dies wäre auch verwunderlich, da diese Strömung erst mit Darwin einsetzte. Vielmehr rekonstruiert Stöckmann ein irreduzibles wechselseitiges Begründungsverhältnis zwischen Anthropologie und Ästhetik. Wer vom 'ganzen' Menschen spricht, der muss ebenso die ästhetischen Kategorien mit einbeziehen, die sich mittels biologischen Vokabulars allein nicht begründen lassen.
In diesem Sinne werden aufklärerische Positionen zur Ästhetik als Beiträge zur 'Erfassung, Erweiterung und Differenzierung des Wissens vom Menschen' interpretiert. Andererseits gilt es im Rahmen der rekonstruierten Anthropologischen Ästhetik, die ästhetische Begründungsfunktion des anthropologischen Wissens, wie es zur Zeit der Aufklärung beispielsweise für Autoren wie Baumgarten, Descartes, Dubos, Meier, Tetens und Sulzer verfügbar war, zu rekonstruieren. Hierbei spielen psychologische Emotionstheorien wie auch aisthetische Theoriebildung eine Rolle. Mit diesen drei programmatischen Punkten werden exemplarische Vertreter der Aufklärung durchleuchtet, wobei der Fokus auf den deutschsprachigen und den frankophonen Raum gerichtet ist. Die unterschiedlichen Ästhetiken, in denen das Ästhetische auf Vergnügen, Lust oder Vollkommenheit bezogen ist, gehen allesamt vom Sinnlichen aus. Keine dieser Ästhetiken scheint dem Rationalismus verpflichtet ' wie Stöckmann nachweist ', sondern begründet Ästhetik in der Sinnennatur des Menschen.
Den Leser erwartet ein gründlich recherchiertes Buch, welches vor allem durch seine Unterscheidungsschärfe zwischen den methodischen Ansätzen besticht. Dabei ist der Fokus nicht nur auf den deutschsprachigen Raum, sondern ebenso auf Frankreich gerichtet. So werden die methodischen Unterschiede zwischen den Autoren Descartes, Dubos und de Pouilly pointiert nachgezeichnet, etwa hinsichtlich der Rolle der Emotionen für ästhetisches Wahrnehmen. Während Descartes dieses Verhältnis quasi reizphysikalisch beschreibt, unterscheidet Dubos etwa zwischen künstlichen und natürlichen Leidenschaften. Einer bekannten aufklärerischen Denkfigur folgend, die sich auch in gegenwärtigen naturalistischen Ansätzen wiederfindet, vertritt de Pouilly eine 'Lusttheorie als 'Physik der Empfindung'', mit der er 'den weiten Phänomenbereich der Lust durch ein empirisch verifizierbares Prinzip einheitlich abzuleiten' sucht. Damit kann er dann auch die ästhetische Kategorie der Vollkommenheit vollzugstheoretisch bestimmen. Interessanterweise zeigt sich hier ' ausgerechnet bei einer schon als reduktiv naturalistisch zu bezeichnende Position ' eine Parallele zu Kant, der zwar nicht auf Vollkommenheit als Kriterium ästhetischer Urteile abzielte, aber dem ästhetischen Vollzug gegenüber dem Gegenstand eine Vorrangstellung einräumt. Vollkommenheit wird also der Form der emotionalen Wahrnehmungstätigkeit zugeschrieben, nicht aber dem Objekt ästhetischer Beurteilung selbst.
Mit diesem Buch sind zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Zum einen gewährt es einen tiefgründigen Überblick über die unterschiedlichen Ästhetiken während der Aufklärung und zugleich erfährt der Leser auch etwas über deren anthropologische Voraussetzungen. Zwar könnte man sich einen stärkeren und über Fußnoten hinausgehenden systematischen Bezug zur gegenwärtigen Diskussion wünschen, die sich mit dem Verhältnis zwischen Emotionen und ästhetischer Wahrnehmung befasst, oder mit den aktuell diskutierten neurobiologischen sowie evolutionsbiologischen Grundlagen ästhetischer Praxis; doch dafür wird der Leser mit gründlichen sowie pointierten Rekonstruktionen aufklärerischer Ästhetiken entschädigt, die als historische Bezugspunkte auch für die aktuelle systematisch orientierte Forschung dienen können.