Der bewusste Ausdruck
Anthropologie der Artikulation

Die Heterogenität der anthropologischen Ansätze könnte die Vermutung nahelegen, dass anthropologische Reflexion einem methodologische Schaulaufen gleichkomme. Entweder ist man Naturalist oder Kulturalist; einerseits die Eingepasstheit eines Organismus in ein evolutionsbiologisches Kontinuum hier, andererseits ' in Form von Tradition 'wirkungsgeschichtlich funktionierendes kollektives Gedächtnis dort. Gerade die Frage nach dem spezifisch Menschlichen scheint Anlass für einen Widerstreit der Methoden zu sein. Matthias Jung hingegen versucht in seiner Monographie eine integrative Anthropologie zu entwickeln, in der kulturanthropologische Ansätze (Cassirer, Dilthey, Plessner) mit evolutionsbiologischen und kognitionswissenschaftlichen Ansätzen vermittelt werden. Somit will er auch den von Snow geschaufelten Graben zwischen den so genannten 'zwei Kulturen' überbrücken. Hierfür wird von der Fähigkeit zur Artikulation als spezifischem Merkmal des Menschen ausgegangen. Als Bezugspunkte für den Artikulationsgedanken gelten Humboldt und Herder, welche er auf die Artikulationsproblematik hin akribisch rekonstruiert. Diese ist dann auch das grundlegende Prinzip seiner Philosophischen Anthropologie, mit dem sich sein Ansatz, obwohl er menschliche Artikulation als biologisch eingebettet begreift, von der biowissenschaftlich orientierten 'Avantgarde der Neuen Anthropologie' unterscheidet, wobei ein Hauptgeschäft der Philosophischen Anthropologie darin besteht, in reflexiven Sinne nach 'unserem Selbst- und Weltverhältnis als solchem' zu fragen ' also über einen rein deskriptiven Ansatz hinauszugehen.
Das Phänomen des Ausdrucks lässt sich bereits ethologisch etwa als Signalisierung von Paarungsbereitschaft oder in Form von Drohgebärden evolutionsbiologisch rekonstruieren ' zumindest im Hinblick auf nichtmenschliche Organismen ', doch gerade beim Menschen erfährt der Ausdruck durch Reflexivität eine als Ausdruck gewusste Ausdrücklichkeit und wird daher artikuliert. Ist im Tierreich Ausdruck der unmittelbare Ausfluss 'innerer' Zustände, so erfährt menschlicher Ausdruck seine Vermittlung in Form von Artikulationen. Das Artikulationsphänomen gilt als spezifisch menschlich sowie kulturbedingt und ist zugleich in einer evolutionsbiologischen Kontinuität verortet. Mit Cassirer gesprochen wäre das Ausdrucksphänomen in seiner Genese zwar biologischen Ursprungs, doch die Geltung ' im Rahmen des Symbolischen ' ließe sich nicht mehr rein biologisch erklären. In diesem Sinne bleibt er Dilthey verpflichtet, der das Biologische zwar als den Boden der Entstehung kultureller Gebilde betrachtet, doch die Auffassung vertritt, dass zur deren Interpretation eine andere Methode herangezogen werden müsse.
Problematisch stellt sich allerdings die Rede vom evolutionsbiologisch orientierten expressiven Kontinuum dar, in welchem Jung das Phänomen musikalischer Wahrnehmung eingepasst wissen möchte. Zweifelsohne ist an Prozessen musikalischer Wahrnehmung das Gehirn beteiligt; und ein physiologisch funktionierendes Gehör ist eine notwendige Voraussetzung für musikalische Wahrnehmung. Allerdings legen neuere ethologische und neurophysiologische Studien an nicht humanen Organismen die These nahe, dass das Phänomen musikalischer Wahrnehmung und die dazugehörige expressive Dimension anthropologische Exklusivmerkmale darstellen sowie einen evolutionsbiologischen Bruch markieren, der einer Kontinuumsauffassung von biologischer Evolution und der darin eingepassten Expressivität regelrecht zu widersprechen scheint. Sicherlich ist die Integration musikalischer Phänomene in eine Anthropologie der Artikulation naheliegend und verdienstvoll. Jedoch wäre hier ein kritischerer Umgang mit der Forschungsliteratur wünschenswert.
Spannend liest sich Jungs Rekonstruktionsversuch Diltheys, den er zwar als Vertreter der Lebenshermeneutik begreift, wobei für die Lebenshermeneutik Diltheys der Bezug zu den Lebenswissenschaften weitgehend übersehen werde. Dabei wird zumindest indirekt Diltheys Begriff des 'Funktionszusammenhanges' als Beitrag zu einer theoretischen Biologie im Sinne Uexkülls rekonstruiert, der mit seinem 'Funktionskreis' auch für Plessner ein wichtiger Bezugspunkt ist. Wer nun aber vermuten sollte, Dilthey werde als Radikalnaturalist rekonstruiert, ist auf der falschen Spur. Vielmehr geht es Jung darum zu zeigen, inwiefern bereits bei Dilthey eine integrative Anthropologie, in welcher kulturwissenschaftliche wie auch lebenswissenschaftliche Wissensbestände selbstverständlich sind, angelegt ist. Die Pragmatisierung der Hermeneutik, die Dilthey noch eher halbherzig betrieben habe, treibt er voran, indem er Lebenshermeneutik mit Pragmatismus und Evolutionsbiologie verschränkt bzw. sachlich ergänzt.
Ein weiter Bogen wird also gespannt zwischen Kulturhermeneutik einerseits und biologischer Evolutionstheorie andererseits, der versucht, heterogene Methoden zusammen zu denken, um das Artikulationsphänomen ' für dessen 'Realität' überzeugend argumentiert wird ' zur Gänze zu erfassen. Ob aber eine integrative Methode ein gutes Heilmittel gegen einen Dualismus ist, mag dahingestellt bleiben, da auch der Dualismus Spielformen hat, die eher methodischer denn ontologischer Art sind, wie Plessner etwa mit dem Begriff der 'Doppelaspektivität' nahelegt. Für die aktuelle anthropologische Debatte stellt dieses Buch eine echte Bereicherung dar.