Klaus Fuchs arbeitete lange als DAAD-Lektor in Litauen; zu seinem Buch schreibt Arthur Hermann, der Herausgeber des Jahrbuchs 'Annaberger Annalen über Litauen und deutsch-litauische Beziehungen' : 'Menschen, die längere Zeit im Ausland gelebt haben, bewerten nach ihrer Rückkehr die Lage in der Heimat öfters kritischer als die Daheimgebliebenen.' In dieser umfangreichen Betrachtung geht es dem Autor um unseren Werteanspruch, Fragen nationalen Interesses, unser Staatsverständnis und unser Verhältnis zu den Nachbarn und zu Israel. Einige Zitate aus diesem Buch sollen die Intention des Autors unterstreichen:
'In der Tat scheint in unserem Land zu vielen Themen oft fast alles frei sagbar, nur eben kaum die nackten Wahrheiten und unmittelbaren Folgerungen gerade zu den spannendsten Fragen künftiger Richtung' (S. 177);
'Unsere nationalen Angelegenheiten befinden sich folglich in einem Zustand internationaler Kollektivierung, ohne dass dergleichen in unserer Verfassung stünde' (S. 250);
'Die Funktion der Gesellschaft liegt heute in der schönen Nachricht eher denn im Faktum' (S. 369);
'Sind heute Parteiprogramme nicht eher Ausdruck der Taktik, denn der echten, fundamentalen Überzeugung, ohne die sich sozusagen Politik nicht lohnt?' (S. 566).
Das Buch konfrontiert den Leser und zwingt ihn zu einer Auseinandersetzung mit den ihm lieb gewordenen Ansichten.
Sukzessive mit dem Lektürefortgang vermag man durchaus dem inhärenten Textappell unterliegen, um seinerseits pauschal Pauschalisierungen festzustellen. Denn Differenzierungen sind sehr oft die Sache des vorliegenden Verfassers nicht, der zudem sich meistens in ein antlitzloses Kollektiv einreiht, wie an folgender Stelle: 'Denn das schlimmste Böse, so redet die Menschheit sich ein, hat sie ja schon hinter sich, so dass wir nun Kompromisse machen können, wo es sich für uns lohnt.' (S. 278)
Was einen beim Lesen beschleichen kann: Das wäre ja ein 'Verdammt in alle Ewigkeit' , das der Autor da fatalerweise für seine Gesellschaftsformation konstatiert, wenn er gleich zu Beginn zu seiner Hauptsache kommt: 'Wir sind in der gnädigen Rückschau zu den Besiegten eines gerechten Krieges geworden, in dem die Verbrechen der Besiegten eine totale moralische Überlegenheit der Sieger konstituieren. Damit einher geht die praktische Idee der Verfügbarkeit im Äußeren, der Gestaltbarkeit im Inneren. Wir sind in das Lager der Moral gewechselt; ja wir sind in unserer alten Identität konvertiert hinein in das Lager der guten Kräfte in der Welt. Wir sind als Deutsche sozusagen, sei es auch nur aus Dankbarkeit gegenüber unseren Befreiern, heute zum Wirken des Guten bedingungslos verdammt. Wir sind Einsatz schuldig, wo immer sich das Thema des Guten stellt; und umgekehrt wird jedes vorgetragene Interesse, das Einsatz erzwingt, zu einer hemmungslosen, endzeitdualistischen Frage von Gut und Böse. Haben wir alle Vernunft vergessen, oder fürchten wir, an sie zu erinnern? ' Ebenso verdammt sind wir zur immer wieder wiederholten Feier unserer neuen Identität, ohne Rücksicht auf den Preis. Wirklich Neues vermissen wir. Ein dauerhaft und pathetisch problematisches Verhältnis zur eigenen Nation ist der Preis für einen akzeptierten Platz in einem für uns neuen politisch-moralischen Koordinatensystem; und die Rechtfertigung der Opfer, die hierfür gebracht wurden, der atemberaubenden Verleugnung ganzer Generationen, ihrer Stimmen und Überzeugungen, verdient durchaus eine Diskussion. Das Thema einer geradezu natürlichen, ja abstoßenden deutschen Anpassungsfähigkeit an die Umstände, ebenso wie deren schreierischer Rechtfertigung, erhebt hier sein Haupt.' (S. 11f.)
Schon mit diesen Invektiven kann sich entscheiden, ob sie den Nerv der Leserin oder des Lesers treffen. Letzteres auch buchstäblich, ja intendiert, schließlich möchte der Text 'kollektive Neurosen' (S. 11), 'resignierte Depression' (S. 643) für die 'Kollektivpsyche' (S. 11) abwenden helfen.
Unprätentiös ist des Verfassers Projekt wahrhaft nicht, aufklärerisch gar; etwa im Kielwasser eines Mario Erdheim als ein kategorischer Einspruch gegen die Verstetigung einer 'gesellschaftlichen Produktion des Unbewussten' (1984), in der mehr als gut gemeinten Absicht, womöglich einzig auf diese Weise eine 'grundsätzliche Veränderung der politischen Kultur und damit der Politik eines Staates' (Thea Bauriedl: Die Wiederkehr des Verdrängten. 1986, S. 43) herbeiführen zu können. ' Dazu 'bedarf es einer gewissen Unerschrockenheit' (S. 7), wie der Autor betont, um 'sich den Dingen' zu nähern, 'die wirklich sind' (S. 8).
Nun, mit welcher Methode wird hier zu entwirren getrachtet, eine Entschleierungsarbeit als gleichsame 'Anleitung zum Glücklichsein' (in signifikanter Abwandlung des Bestsellers von Paul Watzlawick, 1983) geleistet?: 'Der Band möchte Reflexionen und Analysen in essayistischer Form, unterlegt mit charakteristischen Medienmeldungen, anbieten. Besonderer Wert wird auf die Charakterisierung eines interessanten Moralüberbaus realer Ordnung und eingefahrener Moralmechanismen innerhalb dieser, ja der charakteristischen politischen Rolle von Moral an sich, gelegt. Diese Zusammenhänge versteht der Autor als ein sehr modernes Phänomen von enormer Tragweite für die Strukturierung unserer Lebenswelt. Ist doch das erkennbar Symbolhafte Symptom der empfundenen Wirklichkeit einer Epoche, die sich durch Fakten allein nicht umreißen lässt. Vielleicht trägt die Benennung solcher Symbolsymptome dazu bei, nötige Dinge wieder beim Namen zu nennen. Der Epochenbruch von Versailles, welcher mit gewaltsamer Macht erreichte Tatbestände mit typisch eindeutiger Moralwertung verschmolz, etablierte ein in Grundzügen noch immer gültiges Muster: Vergleiche, Analogien dieser alten mit neueren Phänomenen werden, wo angebracht, eingeflochten. Es interessiert der große Zusammenhang.' (S. 77f.)
In der Durchführung hingegen wird bedauerlicherweise der inspizierende Blickwinkel ziemlich verengt auf die epochale Wende von 1918/1919 und einem dingfest gemachten Hauptverantwortlichen der benannten Misere: die 'allumfassende Staatsmoral mit Weltverbesserungsanspruch' (S. 45). Zuletzt genannte besitzt angeblich eine wohlweißliche Funktion: 'der Staat maßt sich somit eine universale Bewertungshoheit oberhalb der Zivilgesellschaft an, die in Deutschland bewusst installiert wurde, um uns vor doktrinären Exzessen des Staates zu schützen, uns vor den Mächten zu schützen, die uns süß versprechen, uns die Sorgen unseres Gewissens abzunehmen und sie an Institutionen oder gar Führerfiguren zu delegieren.' (S. 58)
Derart schmale Argumentationsbasis korreliert dann mit dem entsprechenden Befund über die 'deutschen Befindlichkeiten' . ' im Kontrast dazu kommt Friedrich Dieckmann (Was ist deutsch? 2003), der ebenfalls mangelndes nationales Selbstgefühl bei seinen Landsleuten problematisiert, zu kommensurableren, begütigenderen Ergebnissen, gerade indem er die Genese des auch von Fuchs thematisierten 'Komplexes' ins 17. Jahrhundert zurückdatiert (S. 27).
Es kann nun just dem vorliegenden Werk geradezu als Stärke angerechnet werden, partout der Bürgerschaft aus der Geiselhaft des moralisierenden Staates entkommen helfen zu wollen, als Beitrag zur sozialen Psychohygiene ; quasi heimlicher Titel des Buches ist eigentlich jener eines seiner Unterkapitel: 'Über den Moralstaat als Erscheinung der Gesinnungshygiene' . Exakt entlang dieser Diagnose werden meistenteils die Gedanken entwickelt.
Kann unter Umständen die Diagnose auch überzeugen, so entspricht ihr gegenüber dennoch keine Therapie (,und womöglich verrät des Verfassers obstinates 'Wir' die Konzession eigener Therapiebedürftigkeit!).
Nach Vittorio Hösle (Moral und Politik. 1997) kann es 'ein Zuviel an moralischer Gesinnung nicht geben' , sehr wohl jedoch die Frage, mit welcher Moral sich ein Moralismus legitimerweise kritisieren lässt (S. 116). ' Wie löst nun der Autor eine Aussage wie die folgende ein: 'Authentische neue Impulse und Ausblicke, frische Ideen stehen aus.' (S. 83) ' Bedauerlicherweise stehen den aufgeworfenen Gravamina keine Antworten gegenüber. 'Was wir zu sein fühlen' (S. 114), bleibt leider ohne Inhalt; das 'Ende des Ergebnisoffenen' (S. 109), eingeklagt, kommt ohne jegliche Utopie aus. 'Antworten unter nationalen Gesichtspunkten' (S. 227) werden unter, wie alsbald beschrieben, bekannten Vorzeichen zwar gegeben, eine 'neue Gestaltungsfreiheit' (S. 274) bricht sich jedoch kaum Bahn. ' Ein gemessen an der Hauptstoßrichtung der Kritik des Autors ' besonders ersehntes ' augenfälliges Desiderat ist das lediglich konstatierte 'Dilemma eigener Beurteilung, was sittlich ist und was nicht' (S. 442).
Während im schon erwähnten Beitrag von Dieckmann die Vielfalt und Pluralität schlicht als nationales Stereotyp figuriert (vgl. S. 34), konturiert Fuchs diesbezüglich in ungewohnter Weise prononciert: 'Denn als bedrohlich wird ja nicht eigentlich Vielfalt empfunden; bedrohlich empfunden wird eine nicht mehr zu kontrollierende Dynamik dieser Vielfalt, welche letztlich die Balance der ethnischen Relationen, und schließlich auch der Macht, in unserem Land verschiebt ' das indigene Element überflügelt. Und spätestens hier stellt sich für den Staat in allerernstester Form die Frage, ob eine modisch-frivole übersteigerte Auslegung der grundgesetzlichen Toleranzgebote, aus welchen er sozusagen eine deutsche Verantwortung auf deutschem Boden für jeden beliebigen Menschen konstituieren wollte, noch möglich ist. ' Der Autor ist der Meinung: Hier ist die Grenze des Verantwortbaren überschritten, denn in diesem oftmals gehässigen Trotz einer sich zelebrierenden Herrschaft wird der Demokratie ihr strukturelles Fundament entzogen. Denn Demokratie umfasst auch, will sie gerechtfertigt sein, die Verpflichtung für die Regierenden, sich mit den realen Sorgen der Nation zu beschäftigen.' (S. 603f.)
Der Autor ist um 'positive Lösungen' (S. 637) dessen, was er moniert, verlegen: Für das 'Nach-dem-Jetzt' (S. 637) hält er keine wie auch immer geartete Vision parat. Eines seiner Resümees lautet denn auch: 'Vielleicht obliegen die Antworten einer künftigen Generation.' (S. 638)
Düpiert kann man sich bei der Lektüre schon vorkommen. Mir jedenfalls kam der Verdacht, in diesem Buch ein sich seiner selbst nicht bewusstes Mündel, das brusttonüberzeugender, wie auch -überzeugter Vormund sein will, am Werk zu sehen (vgl. dazu Peter Handke: Das Mündel will Vormund sein. 1969).
Zur Erklärung: Paul Watzlawick (1976, 1978) schreibt in seinem 'Wie wirklich ist die Wirklichkeit?' , wobei Fuchs selbst die Hilfestellung eines derartigen Werks heraufbeschwört: 'Man kann einen Zustand der Konfusion als das Spiegelbild der Kommunikation auffassen.' (S. 13). Innerhalb des Erkenntnisinteresses, ja des Sujets, zeigt sich die Wirklichkeitsauffassung der bei Fuchs skizzierten sozialen Verhältnisse zu sehr befangen im (dauer)frequentierten Spiegelkabinett. Im Ergebnis mit dem Vorteil für den Rezipienten, selbst entscheiden zu können, ob folgende Aussagen eher ent- oder vielmehr verwirren: 'Ist Deutschland neuerdings eine >Wohngemeinschaftdie Deutschen, die den totalen und unbarmherzigen Krieg lieben