Wiedergewonnene Geschichte
Zur Aneignung von Vergangenheit in den Zwischenräumen Europas

Der vorliegende Tagungsband enthält die Beträge einer im Oktober 2004 an der Akademia Baltica stattgefundenen Konferenz. Deutsche, französische und polnische Wissenschaftler trugen vielfältige Beispiele für das Wechselspiel von 'Enteignung' bzw. 'Aneignung' historischer Erinnerung in 'Zwischenräumen'. Dabei geht es um den Kampf von in einem bestimmten Gebiet nichtdominanten Gruppen ' 'Minderheiten', 'kleinen Völkern' usw. ' um eine eigene Erinnerung als Teil einer eigenen kulturellen Identität, gegen einen, häufig aber auch gegen mehrere größere und 'deutungsmächtigere' Nachbarn. Diese strebten danach, durch ihre nationalen 'Meistererzählungen' nicht nur die eigene Identität zu definieren, sondern zugleich konkurrierende 'kleinere' (regionale/lokale) Identitäten einzuschmelzen und so zu eliminieren. Durch von ihnen kaum beeinflussbare Wendungen der historischen Gesamtlage erhielten die 'kleinen Identitätsträger' manchmal Spielräume zur Behauptung ihrer Eigenart, noch häufiger aber verschob sich lediglich der relative Druck von der einen Flanke auf die andere. Kulturelle Ruhe und Sicherheit waren die Ausnahme.
Somit ist die Aufmerksamkeit, die seit Jahren jenen subnationalen kulturellen Strukturen entgegengebracht wird, zweifellos auch Ausdruck einer veränderten politischen Kultur in Europa, die bewusst die Vielfalt und häufige Überlappung ihrer kulturellen Bestandteile anerkennt und pflegt, auch als erhofften Schutz gegen die Wiederkehr von Großraumdenken und Säuberungswahn des 20. Jahrhunderts. Die dabei in Frage stehenden Räume ' als 'Zwischenräume' in ihrer (meist) inferioren Lage gekennzeichnet ' können in ihrer Ausdehnung sehr verschieden sein; dem entspricht auch die Grobgliederung des Bandes in die Rubriken 'Stadt', 'Region' und 'Symbol'. Unter einer Unzahl von in Frage kommenden europäischen Zwischenräumen konzentrierten sich die Beiträger auf die beiden historischen Grenzräume Deutschlands zu Frankreich bzw. zu Polen hin. Leitfrage war dabei weniger das Dreiecksverhältnis dieser Nachbarvölker zueinander als vielmehr die Frage nach der Vergleichbarkeit des Phänomens 'Enteignung/Aneignung von Vergangenheit' im Westen bzw. Osten Mitteleuropas.
Die Beiträge im Abschnitt 'Stadt' bilden gewissermaßen Miniaturen, durch die der 'Kampf' um die Deutung eines Raums wie unter der Lupe sichtbar wird: Im Mikrokosmos Stadt ' der auch zumeist Ausgangspunkt 'junger' Nationalbewegungen war ' wurden die Errichtung (be)deutungsträchtiger Bauwerke, ihre Zerstörung, ihr Umbau oder auch 'nur' ihre Umdeutung zu anschaulichen Maßnahmen der gerade 'siegreichen' nationalen Identität, sich den Raum anzueignen. Dabei geriet die eigentliche städtische Geschichte häufig in den Schatten der 'Meistererzählungen'. Gute Beispiele hierfür sind die Metropolen Straßburg und Posen an den beiden Rändern des damaligen Kaiserreichs, aber auch Riga in der Dreiecksspannung zwischen deutscher, lettischer und russischer Aneignung oder Stettin, für das nach 1945 auch städtebaulich eine polnische Identität gesucht wurde.
'Regionen' sind die klassischen Räume nichtdominanter Identitäten, besonders 'gemischter' oder 'doppelter' wie in Oberschlesien und dem Elsaß. Die nationalpolitisch motivierte Änderung von Ortsnamen war ein Phänomen besonders des deutsch-polnischen Grenzraums. Besonders interessant sind ungewöhnliche Perspektiven, so etwa auf die Rolle von Gebrauchsgegenständen bei der polnischen Aneignung der ehemaligen deutschen Ostgebiete nach 1945, der Blick der nach dem Ersten Weltkrieg politisch dominanten Polen und Tschechen auf die karpatischen Huzulen oder die Selbstzerstörung stillgelegter Bergbausiedlungen in Schlesien seit 1989. Auffällig, aber sinnvoll ist es, dass gerade Grenzlandschaften wie die Vogesen oder der Sankt Annaberg dem Abschnitt 'Symbol' zugeordnet werden, da ihre reale Geographie für die Deutungskämpfe nicht entscheidend war.
Alles in allem überzeugt der Band durch die Vielfalt, auch Multidisziplinarität seiner Ansätze, obwohl oder gerade weil er so kein allgemeingültiges Muster für den besagten Erinnerungsprozess liefern kann.