Unruhige Zeiten
Lebensgeschichten aus Russland und Deutschland

Im Rahmen des europäischen Netzwerks von Geschichtswettbewerben EUSTORY sind seit mehreren Jahren unter anderem der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten und der von der russischen Gesellschaft MEMORIAL betreute Wettbewerb 'Der Mensch in der Geschichte ' Russland im 20. Jahrhundert' miteinander verbunden. Aus dieser Verbindung entstand das vorliegende Buch. Dabei schreiben deutsche und russische Jugendliche jährlich Geschichte(n), die sich in ihrer lokalen Heimat abgespielt, aber nicht in das kollektive Gedächtnis Eingang gefunden haben. Dafür sind im deutsch-russischen Fall wesentlich die politischen Rahmenbedingungen des Weltkriegszeitalters verantwortlich, deren gedächtnisselektive Effekte sich auch nach 1945 allenthalben, insbesondere aber im Sowjetsystem fortsetzten. Ob es dabei angemessen ist, wie Wolfgang Büscher in seinem Vorwort von einem '75-jährigen deutsch-russischen Krieg (1914-1989)' zu sprechen, ist gewiß diskussionswürdig, zumal an mehreren Stellen zurecht auf das trotz allem seltsam nahe 'gefühlte' Verhältnis zwischen den beiden Nationen verwiesen wird. Jedenfalls sind die 'Helden' der hier versammelten Aufsätze allesamt Menschen ' Deutsche und Russen ', die aus verschiedensten Gründen in das Räderwerk der Kriege und der totalitären Systeme gerieten und deren Existenz in den meisten Fällen dadurch zerstört wurde. Die Palette der Personen und ihrer Schicksale ist sehr breit, was auf den generell lebensfeindlichen Charakter der Epoche verweist; sie reicht von deutschen Gefangenen des Ersten und Zweiten Weltkriegs über Rußlanddeutsche zwischen Autonomie, Deportation und 'Heimkehr' in ein ihnen fremdes Deutschland und ganz 'normalen' russischen Bürger, die durch die Zeitläufte unbarmherzig entwurzelt wurden, bis zu russischen bzw. sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern in Deutschland und deren Behandlung durch die Deutschen sowie durch die 'eigenen' Behörden nach der Repatriierung. Unverzichtbar ist auch die Schilderung jüdischer Schicksale und das Verhalten von Nichtjuden ihnen gegenüber. Allen Opfergruppen gemeinsam ist, daß sie nicht in die von den jeweiligen Machthabern vorgegebenen starren Identitätsraster paßten und daher der Vernichtung bzw. Verdrängung überantwortet wurden ' das betraf sowohl Individuen als auch ganze Kollektive. Letztlich wurden dadurch auch die jeweiligen lokalen Gemeinschaften in ihrer ursprünglichen, d.h. vortotalitären Form zerstört.
Materialgrundlage der Darstellungen waren, neben einer in der Regel eher schmalen Basis vorhandener Dokumente, in erster Linie die durch Interviews oder schriftliche Kommunikation erfaßten Erinnerungen von Zeitzeugen, teils solche der Opfer selbst, teils solche von 'Beistehenden', wobei die Grenzen zwischen diesem Gruppen oft nicht scharf zu ziehen sind. Zu ihren Forschungen wurden die jungen Autorinnen und Autoren oft durch zufällig gemachte Entdeckungen im Ortsbild ihrer Gemeinde angeregt ' vergessene bzw. nicht mehr zuordnenbare Gedenktafeln oder Gräber, 'vergessene' Gebäude und Nutzungsflächen oder auch einfach Erzählungen älterer Menschen, die nicht ohne weiteres nachvollziehbar waren. Sie haben dabei, wenn auch wohl mit geringerer oder größerer Hilfe ihrer Tutoren, sehr eindrucksvolle Leistungen erbracht. Ein Glossar ergänzt die notwendigsten Hintergrundbegriffe. Unweigerlich sind dies methodisch keine 'runden' Darstellungen, aber darin liegt auch nicht der Sinn der Geschichtswettbewerbe, sondern vielmehr darin, das allgemein (mehr oder weniger) Bekannte mit Leben zu füllen, indem man es auf die Ebene des menschlichen Alltags 'herunterbricht'. Und diesbezüglich wird jeder Interessierte die hier versammelten Arbeiten mit Gewinn lesen.