Vom "Günstling" zum "Urfeind" der Juden
Die antisemitische Nietzsche-Rezeption in Deutschland bis zum Ende des Nationalsozialismus

In seiner Bochumer Dissertation zeichnet Thomas Mittmann die komplexe Entwicklung des Nietzsche-Bildes von dessen Schaffenszeit bis zum Ende des Dritten Reiches im Rahmen der Antisemitismusdiskussion nach. Ausgehend von der bis heute zunächst verwundernden Tatsache, dass diesem vielleicht ideell einflussreichsten deutschen Philosophen des späten 19. Jahrhunderts seit jeher sowohl anti- als auch philosemitische Positionen unterstellt worden sind, verweilt der Autor nur kurz bei der Betrachtung von dessen eigenem Werk im Hinblick auf seine Einstellung zu den Juden. Denn er gelangt rasch ' und überzeugend ' zu dem Schluss, dass sich dort und in anderen Äußerungen des Denkers in dieser Hinsicht keine einheitliche Linie finden lässt: Kritische Bemerkungen zum Judentum (und Christentum) ' vor allem als Träger einer vermeintlich gesellschaftszersetzenden 'Sklavenmoral' ' finden sich dort immer wieder neben scharfen Invektiven gegen und Distanzierungen von zeitgenössischen Vertretern des Antisemitismus. Nietzsches 'Aristokratismus' und Ästhetizismus ließen ihn sich gegen eine allzu 'gesellige' Vereinnahmung zur Wehr setzen; auch äußerte er sich im Laufe der Jahre durchaus uneinheitlich zur 'Judenfrage'. Gleichwohl lieferten seine vieldeutig formulierten eugenischen Vorstellungen zahlreichen Rezipienten, nicht zuletzt solchen kollektivistisch-völkischer Denkungsart, eine Art geistigen Steinbruch. Überdies scheinen Nietzsches Streitigkeiten mit antisemitischen Zeitgenossen in den meisten Fällen eher auf persönlichen Differenzen und seiner Ablehnung jeder Vulgarisierung beruht zu haben als auf einer grundsätzlichen 'anti-antisemitischen' Haltung des Philosophen. Als Folge davon entstanden in den völkischen Zirkeln Deutschlands zwar im Detail unterschiedliche Nietzsche-Bilder, die aber allesamt an antijüdische Aussagen von ihm anknüpfen konnten. So ist die vorliegende Arbeit eine Schilderung von Formen der Vereinnahmung des Philosophen durch verschiedene Strömungen und Einzelfiguren der stets fragmentierten antisemitischen Bewegung. Es wird deutlich, wie seine Person und seine Ideen als flexible Projektionsflächen auch für innere Rivalitäten dieses Lagers verwendet wurden. Zu der Instrumentalisierbarkeit Nietzsches von dieser Seite trug ohne Frage besonders nach 1900 die Weimarer Editionspolitik seiner Schwester Elisabeth und ihres Ehemanns Bernhard Förster bei. Bemerkenswert ist die Akzentverschiebung der antisemitischen Lesart des Dichters von einer unterstellten 'Judenfreundlichkeit' des Ästheten während des Kaiserreichs hin zu einer immer stärkeren, wenn auch nicht bruchlosen Beanspruchung des Denkers durch die völkische Bewegung nach 1918, später auch durch die Nationalsozialisten. Hier kam erkennbar ein die äußere Niederlage kompensierender Effekt zum Zuge, ähnlich wie nach 1871 bei der Dreyfus-Affäre in Frankreich. Eine besondere Gruppe von Rezipienten bildeten jüdische Intellektuelle vor allem assimilatorischer Tendenz, die in eigentümlicher Parallele zu ihren antisemitischen Kontrahenten lange Zeit bemüht waren, Nietzsche gleichsam als 'projüdisch' zu verorten, indem sie ihn als Vertreter eines voluntaristisch-kulturorientierten Volkstumsbegriffs zeichneten; spätestens nach 1933 resignierten sie jedoch angesichts seiner geistigen 'Annexion' durch das Dritte Reich. Dort wurde er dann als Prophet eines 'Rassen-Endkampfs' zwischen Arier- und Judentum bis hin zum Holocaust vereinnahmt.
Auf knapp 150 Seiten Text, ergänzt durch ein weitere 64 Seiten umfassendes Quellen- und Literaturverzeichnis, liefert Mittmann eine klassische epistemologische Arbeit über den einerseits recht hermetisch strukturierten Diskurs völkischer Intellektueller, die andererseits weitreichenden politischen Einfluss entwickelten. Die Frage der breiteren gesellschaftlichen Wirkung dieser Ideen ist naturgemäß nicht Gegenstand der Darstellung. Ohne dass der antijüdische Charakter mancher von Nietzsches Äußerungen zu leugnen wäre, erscheint dennoch nicht an allen Stellen des Buches die relativ klare Zuschreibung einer echt antisemitischen Haltung seitens des Autors durch die angeführten Zitate eindeutig belegt; die Offenheit des Diskurses bzw. solipsistische Beliebigkeit, mit der sich viele Briefschreiber des 19. Jahrhundert zu äußern pflegten, ließe oft auch andere Auslegungen zu. Überhaupt geht aus der Arbeit der manipulative Umgang vieler Rezipienten mit dem früh umnachteten Denker eigentlich klarer hervor, als der Autor es abschließend einzuräumen gewillt ist. Auch ist die Feingliederung nicht immer sofort nachvollziehbar, wird dann aber als Widerspiegelung der Zersplitterung des antisemitischen Lagers deutlich; und generell wird die Lektüre der Arbeit ' eigentlich im positivsten Sinne des Wortes eine Miszelle ' durch solide Vorkenntnisse über die völkische Bewegung sehr erleichtert. Dennoch verschafft die Lektüre dieser gründlichen Analyse dem Leser einen klaren Gewinn an Tiefenschärfe über einen bekannt verhängnisvollen, im Einzelnen aber wenig bekannten Diskurs.