In dem 1994 veröffentlichten Buch 'Der Junge von der Bernsteinküste', seinen Erinnerungen an die Vorkriegs- und Kriegszeit (1938-1948) in seiner ostpreußischen Heimat, hatte Martin Bergau unter anderem geschildert, wie er Ende Januar 1945 als 16-jähriger Hitlerjunge Zeuge eines in der deutschen Öffentlichkeit kaum bekannten Massakers wurde. Damals wurden 5000 meist polnische Juden ' mehrheitlich Frauen ' angesichts der vorrückenden Sowjetarmee von der SS aus in Ostpreußen gelegenen Außenlagern des westpreußischen Konzentrationslagers Stutthof zunächst in Königsberg gesammelt und anschließend, auf einem der berüchtigten 'Todesmärsche', in das Bernsteinstädtchen Palmnicken am äußersten westlichen Ende der samländischen Halbinsel getrieben. Nachdem schon auf dem Weg dorthin ca. 2000 Häftlinge an Erschöpfung gestorben oder direkt von den begleitenden SS- Männern bzw. Angehörigen der Organisation Todt ermordet worden waren, wurden die übrigen ca. 3000 Menschen nach dreitägigem Aufenthalt in Palmnicken in der Nacht auf den 31. Januar 1945 auf die halbzugefrorene Ostsee getrieben und dort erschossen oder erschlagen bzw. sie brachen zwischen den Eisschollen ein und ertranken im eisigen Wasser. Nur etwa ein Dutzend von ihnen überlebte.
In Reaktion auf diese Episode seines Buches war der Autor teilweise scharf kritisiert worden, besonders von Vertretern der Vertriebenenverbände. Vor allem aber erreichte ihn danach eine derartige Fülle an Zuschriften von Zeitzeugen, daß er sich verpflichtet fühlte, das besagte Geschehen in seiner Komplexität in einem eigenen Buch darzustellen. Neben den Zeitzeugenberichten stützte er sich dabei auf Unterlagen der Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg und auf einige in Yad Vashem befindliche bzw. edierte Dokumente, einschließlich der Kopien sowjetischer Vernehmungsprotokolle aus der Zeit unmittelbar nach der Besetzung Ostpreußens. Das aus diesen unterschiedlichen Quellen entstandene Buch bietet dem Leser ein eindringliches Bild des Geschehens. Wenn die Aussagen jüdischer Überlebender neben denjenigen deutscher Augenzeugen ' einschließlich Bergaus eigener Jugenderinnerung ' in einen aus den offiziellen Dokumenten gespeisten Erzähltext eingeflochten werden, dann geschieht das nur scheinbar regellos. Tatsächlich entsteht durch diese Überlagerung unterschiedlicher Erinnerungsperspektiven eine Art 'dichter Erzählung'; dadurch werden die Fakten und Figuren greifbar und authentisch. Das Motiv des Autors ist ein zutiefst moralisches; obwohl ohne wissenschaftlichen Apparat und ohne Scheu vor klaren Urteilen schreibend, sucht er dennoch ' m.E. mit Erfolg ', allen Seiten gerecht zu werden und behält stets eine sachliche Perspektive bei.
Da nur wenige Überlebende noch von dem Geschehen berichten können, verdankt sich die Entstehung des Buches wesentlich dem großen Mitteilungsbedürfnis der vielen damals im Jugendalter stehenden deutschen Augenzeugen. Diese erscheinen, da ihr direkt nach dem Massaker beginnendes Flüchtlingsschicksal alle anderen Erinnerungen jahrzehntelang überlagerte, teils ähnlich traumatisiert, wie es sonst von Überlebenden des Holocaust bekannt ist. Analog hierzu zeigt das Buch wie in einem Brennglas die unlösbare Verquickung der NS-Verbrechen mit den Anfang 1945 ' beginnend mit Ostpreußen ' auch zu Lande das deutsche Gebiet erreichenden Schrecken des Zweiten Weltkriegs, mit Flucht und Vertreibung. Ebenso fokussiert ' auf wenige Tage und Kilometer ' begegnet man den unterschiedlichsten Personen und Handlungsweisen: von den gequälten Juden über erschreckte Zivilisten, hilflose Wehrmachtsoffiziere, verstörte Hitlerjungen, flämische, litauische und ukrainische Angehörige der Waffen-SS bis zum altpreußischen Weltkriegsoffizier und Volkssturmführer, der die Juden drei Tage lang beschützt und dafür von der SS ermordet wird.
Gerade in seiner unspektakulären und von Platitüden freien Art illustriert das Buch unser abstraktes Wissen über Krieg und Holocaust ergreifend anhand konkreter Schicksale.