Während die meisten Autoren den Fokus auf den vorkritischen oder den kritischen Kant legen, rekonstruiert Rauer Kants kritische Wende als Vorbereitung auf das kritische Geschäft. Unter 'kritischer Wende' versteht Rauer nicht nur einen transitorischen Punkt in der intellektuellen Biographie Kants, sondern er rekonstruiert diese als eine Epoche zwischen Rationalismus und Transzendentalphilosophie. In der kritischen Wende, die sich in den Augen Rauers immerhin über den Zeitraum von 1759 bis 1781 erstreckt, ist die Kritik des Wahnsinns, die er etwa exemplarisch an dem Geisterseher Swedenborg expliziert, eine wichtige Negativfolie für die Kritik der reinen Vernunft. Schon die hermeneutische Arbeit, die Rauer investiert, um Kants vorkritische 'vernünftige Wahnkritik zu einer Wahnkritik der Vernunft' (91) zu interpretieren, ist nicht nur hinsichtlich der Extension, sondern auch hinsichtlich der Akribie beachtlich. Indem Rauer seine These unter Einbeziehung der Wahntheorie, die Kant in seiner Anthropologie und Religionsschrift formuliert, ex post rechtfertigt, unterstreicht er eben die systematische Zweckmäßigkeit der vorkritischen Psychologie. Im Unterschied zu anderen Publikationen geht es Rauer also nicht um Kants Antipsychologismus, der bis in die Phänomenologie Husserls reicht.
Wird etwa in der Psychopathologie Jaspers', sowie dessen Rezeption, die Relevanz Kants Konzeption der transzendentalen Apperzeption hinsichtlich eines Subjektbegriffs reflektiert, geht es Rauer hingegen darum, Kants vorkritische Psychologie als Ausgangspunkt für die Konzeption des transzendentalen Subjektes zu modellieren. Rauer weist dabei auf die Unterscheidung zwischen Subjekt und Person hin. Bei Schizophrenie haben wir es nicht mit zwei Subjekten, sondern mit zwei Personen in ein und demselben Subjekte zu tun; und hieraus habe Kant die Idee des transzendentalen Subjektes gewonnen. Nicht nur die Zusammenstellung bzw. Rekonstruktion des Textkorpus, der Kants Psychologie repräsentiert, sondern auch die systematische Anbindung an die moderne Psychologie und Psychiatrie und Psychoanalyse können als äußerst gelungene Theoriestücke betrachtet werden, die auch Psychoanalytiker auf Kant neugierig machen sollten. So stellt Rauer im zweiten Teil seiner Monographie in Rekurs auf Kants 'Versuch über die negativen Größen' einen klaren Bezug zu Freud her (126), insofern von 'dunklen Vorstellungen' (182) die Rede ist, welche sich nicht nur, wie gelegentlich dargestellt, auf vage Begriffe beziehen, sondern eine Vorstufe zu Freuds Theorie vom Unbewussten darstellen.
Von seiner in der kritischen Phase ausgehenden Psychologie sowie der dort entwickelten Theorie des Wahnsinns habe Kant ein Vokabular für sein kritisches Geschäft gewonnen, um auch die Hybris der Wissenschaft in ihre Grenzen zu weisen bzw. den Wahn des Rationalismus zu dekonstruieren, indem er Metaphysik als die Reflexion der Grenzen der Vernunft beschreibt. Rauers Monographie stellt nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Kantforschung historischer wie auch systematischer Art dar, sondern dokumentiert ebenso eindrucksvoll die wissenschaftsphilosophische Aktualität Kants.