Grundfragen der Kulturgeschichte

Wie beliebte Themen in den Massenmedien und auf dem Büchermarkt zeigen, hat das Interesse an der Kultur zwar in den letzten Jahrzehnten generell zugenommen, jedoch sind die Kenntnisse über die damit verbundene wissenschaftliche Kulturgeschichte noch zurückgeblieben. Dies für Studierende wie Lehrende bestimmte Buch füllt hier nun eine Wissenslücke. Im knappen Umriss wird ihre Entwicklung seit dem 18./19 Jahrhundert im deutschen Kulturraum mit ihren sich wandelnden Zielsetzungen, Theorien und Methoden in gedanklich stark verkürzter Form höchst übersichtlich dargestellt. In Ergänzung zur Staatengeschichte werden die Menschen als Produkte ihrer Herkunft, natürlichen wie sozialen Umgebung in früheren Zeiträumen untersucht, in die sie hineingeboren wurden.
Aufgabe des Historikers ist es hier, ihre damaligen kulturellen Lebensformen und Grundbedürfnisse für heutiges Verständnis zu entschlüsseln (z.B. Ernährung, Wohnen, Gesundheitspflege und Körperbetrachungen, aber auch religiös-weltanschauliche, rechtliche wie künstlerische Äußerungen).
Das Buch macht den Leser mit der ungeheuren Vielfalt der Kulturphänomene und den Schwierigkeiten einer einheitlich befriedigenden Definition der Kultur vertraut. Wahrscheinlich gibt es etwa ein halbes Tausend Versuche für eine solche Begriffsbestimmung. Der historisch Gebildete erfährt hier zugleich etwas über die zahlreichen akademischen Kontroversen sowie Aufgaben, Theorien und Quellen einer Kulturgeschichte, die kein übliches Teilgebiet sein will, sondern auf eine andere Form der ganzen Geschichtsauffassung zielt. Für den Fachhistoriker ist dieser seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erhobene Anspruch nicht neu, jedoch wird er die Kombinationskraft begrüßen, mit der beide Autoren so viele Ideen gelungen kommentiert zu einer großen Entwicklungsreihe zusammengefügt haben. Ihr Hauptinteresse hierbei galt speziell der großen historiographischen Wende zur strukturalen Sozialgeschichte um 1960 und der dann folgenden Wiederentdeckung des zeitweise bei den Historikern ganz Vergessenheit geratenen homo culturalis mit der Gründung einer 'Neuen Kulturgeschichte' in den 1980er Jahren. Lobend ist hier hervorzuheben, dass nicht nur ihre heutigen Aufgaben skizziert werden, sondern auch welche anderen historischen Teilfächer sich mit ihren eigenen Wissenschaftstraditionen unter diesem Dach vereinen lassen wie z.B. die Alltagsgeschichte, Historische Sozialwissenschaft und Anthropologie, aber auch die Erinnerungs-, Mentalitäts-, Geschlechter- und Familienforschung.
Die Geschichtsschreibung erfährt durch den hier entfachten Kulturalismus einen früher ungeahnten Pluralisierungsschub. Die 'Neue Kulturgeschichte' wendet ab von der Makro- hin zur Mikrohistorie und ihren Akteuren, deren Kultur verstanden wird als 'ein Ensemble historisch wandelbarer Praktiken der Welt- und Wirklichkeitsdeutung, die nicht losgelöst von den institutionellen und strukturellen Determinanten, rekonstruiert werden können, welche sie bedingen'.
Wegen der üblichen Limitierung einer Rezension kann auf die Details des Studienbuches hier nicht eingegangen werden, sondern es muss die Feststellung genügen, dass hier ein für längere Zeit mustergültiges Standardwerk entstanden ist. Bei der Fülle der verarbeiteten einschlägigen Literatur erscheint es nicht sinnvoll, noch auf andere außer Herder erwähnenswerte Vorläufer einer Kulturgeschichte im 18. Jahrhundert (z.B. Voltaire und Montesquieu sowie andere Göttinger Staatswissenschaftler neben dem erwähnten Schlözer wie A. H. L. Heeren) hinzuweisen oder dann für das 19. Jahrhundert die Werke von W. H. Riehl, K. Biedermann, Ratzel, H. Schurtz und G. Steinhausen zusätzlich zu benennen.
Bei einer Anschlussforschung sollten freilich auch auf wichtige Beiträge zur Kulturhistorie von der älteren und jüngeren Historischen Schulen der Nationalökonomie und Jurisprudenz, ferner auf vereinzelte gedankliche Zulieferer aus Geographie, Völkerpsychologie und Demographie sowie der ebenfalls einsetzenden Technik- und Unternehmensgeschichte aufmerksam gemacht werden. Wünschenswert wäre außerdem eine Behandlung der fruchtbaren Kulturgeschichtsschreibung in der hier übergangenen Periode zwischen 1914 und 1945. So ist daran zu erinnern, dass der Historiker Wilhelm Treue 1942 eine 'Kulturgeschichte des Alltags' als Bestseller vorgelegt hat, die mit totalitärer Ideologie aber überhaupt nichts zu tun hat. Manche seiner vielen späteren Untersuchungen lassen sich durchaus unter den hier anvisierten weiten interdisziplinären Kulturbegriff einordnen.
In dem so lehrreichen Buch konnte der Rezensent nur einen wirklichen Fehler entdecken: Die seit den 1980er Jahren rasch empor blühende Alltagsgeschichte hatte wie die Kulturhistorie natürlich einige sich heftig widersprechende Gruppen. Die Zielrichtung, den ganzen Geschichtsverlauf nur von unten aus der Froschperspektive des 'Kleinen Mannes' zu betrachten, war aber keineswegs wie hier behauptet ein Signum der ganzen Alltagsgeschichtsforschung. Sie bildete von Beginn an ein fester Bestandteil der Kulturgeschichte und besonders der Volkskunde und ist es bis heute geblieben.