Geschichte Russlands
Von den Anfängen bis heute

Zur Historie Rußlands existieren nicht wenige klassische Darstellungen auch aus deutscher Sicht, z.B. von Valentin Gitermann, Reinhard Wittram, Carsten Goehrke und Manfred Hellmann bis zu Günter Stökl, Boris Meißner, Gottfried Schramm und Klaus Zernack. Ein neuer Überblick durch einen Fachkenner besonders der neueren und neuesten Zeit ist aber sicherlich nützlich, da die rasch expandierende Geschichtsforschung immer wieder aktueller Bilanzierungen bedarf. Dieser Band, der die Zeit vom Moskauer Großfürstentum und der Genese der Zarendynastie  im 16. Jahrhundert bis zum Ende der Gorbatschow-Ära umfaßt, ist wegen seiner reichen Bibliographie und Herausarbeitung von Grundlinien ein verläßlicher Führer durch das für Laien zunächst schwer durchschaubare Gewirr von Fakten und Ideen. Auch der Ausblick über das künftige Schicksal dieses größten Einzelstaats der Welt regt erfreulich zum Nachdenken an.
Wenngleich Linkes neue Zusammenschau bei historisch Gebildeten Beifall verdient, sind doch einige Hinweise angebracht, wie dieses historische Gemälde noch etwas aufgehellt  werden könnte. Der Autor informiert den Leser in traditioneller Weise primär nur über alle politischen Herrscher mit ihrer Außen-, Innen- und Wirtschaftspolitik unter Hervorhebung zahlreicher Kriege und Aufstände, was wie Perlen auf einer Schnur hintereinander aufgereiht wird. Diese herkömmliche rein chronologische Betrachtungsmethode gibt zwar gelegentliche Hinweise auf damit verbundene gesellschaftliche Begleitumstände. Aber die hier geschilderten großen Umbrüche würden es nahelegen, auch die sich unter der Decke der sichtbar abrollenden  Ereignisse nur allmählich vollziehenden, dafür aber langanhaltenden tieferen sozialen Strukturwandlungen in spezifischen Kapiteln zusammenfassend zu beleuchten. Eine solche gesonderte Übersicht, z.B. der russische Agrarverfassung und ihrer Reformen, könnte die zentrale Frage beantworten, warum sich die typisch russische 'Leibeigenschaft' (die es in Deutschland in dieser Form so nicht gegeben hat) so lange allen emanzipierenden Reformversuchen widersetzte und welche Spuren davon zu Stalins staatlichen Kolchosen führen. Ebenso würde der gegenüber Europa so wesentlich verspätete Aufstieg des urban-liberalen bürgerlichen Mittelstandes, das ambivalente Verhältnis des Staates zur orthodoxen Kirche sowie der Hemmnisse für den Ausbau einer autonomen Justiz und modernen Verwaltung zusammengefaßt Rußlands Werdegang noch transparenter machen. Ferner bedauert der Rezensent, daß die heute so wichtig gewordene Kulturgeschichte des Alltags völlig ausgeblendet bleibt. Über das Familienleben erfährt man leider überhaupt nichts. Für Analysen der bis zur Stalinzeit immer wieder ausbrechenden großen Hungersnöte wäre gerade aber dieser Aspekt immens wichtig. Ein systematischer Vergleich der Geschichte Rußlands mit führender Staaten Europa war im Rahmen des Buches unmöglich, jedoch hätte die Entwicklung des europäischen Rußlandbildes, mit dem sich der Wiener Historiker Walter Leitsch und der russische Schriftsteller Lew Kopolew bereits beschäftigt haben, den wahrscheinlich großen Leserkreis sicher enorm interessiert.