Vorlesung über deutsche Literaturgeschichte
„Die Geschichte der deutschen Literatur von der altesten bis zur neuesten Zeit“ nach studentischen Mitschriften

'Man muß sich hüten, Literatur (und Poesie) zu weit und zu eng zu fassen. Manche gedruckte Bücher zerstieben wie Spreu und sind des Untergangs würdig. Auf der a[nderen] Seite lebt Manches im Volk, was zur Literatur gehört, ohne aufgeschrieben zu sein. Jede Literatur muß volksmäßig sein [...]. Die ältere Literatur überhaupt mehr objektiv, die neuere strebt mehr nach Subjektivität.' (S. 242)
Mit diesen Worten beginnt Jacob Grimm seine Vorlesung über die Geschichte der deutschen Literatur. Er führt sie von ihren germanischen Anfängen bis in die eigene Gegenwart; Börne und Heine gehören zu den jüngsten Autoren. Sie wurde in Göttingen in den Jahren 1834 bis 1837 dreimal gehalten, jedoch von Grimm selbst nicht publiziert, sodass wir für ihre Kenntnis auf die noch erhaltenen fünf studentischen Mitschriften angewiesen sind. Auf der Basis der unmittelbar in der Vorlesung angefertigten Mitschrift von Friedrich August Reitze, der schon Grimms Vorlesung über deutsche Grammatik gehört hatte, legt Janssen eine vorbildliche Edition dieser Vorlesung (Sommersemester 1834) vor mit einer ausgezeichneten Einleitung zu 'Bestandsaufnahme', 'Geschichte der Literaturgeschichtsschreibung', 'Überlieferung und Quellenkritik', 'Text und Textkonstitution' sowie 'Kommentarsystematik und -pragmatik'. Die Edition selbst enthält einen ausführlichen Anmerkungsapparat, hauptsächlich zu den in der Vorlesung genannten Texten, und sie wird durch einen 'synoptischen Apparat auf Basis der Mitschrift Karl Goedekes' (S. 456), ebenfalls aus dem Jahre 1834, abgeschlossen.
Grimm konzipierte seine Vorlesung in jedem Semester neu. Sie steht in der Tradition der sogenannten Literärgeschichte, die als Teil der Geschichtswissenschaft galt und neben der engeren Literaturgeschichte u.a. auch die Gebiete von Theologie, Philosophie, Recht, Medizin, Naturwissenschaften sowie Politik und Geschichte behandelte, wobei allerdings bereits seit dem späteren 18. Jahrhundert die Ausgliederung der 'schönen Literatur' begonnen hatte. 'Die Literaturgeschichte als sinnhafte Darstellung der Historie der 'schönen' Literatur, über das bloße chronologische Verzeichnen literarhistorischer und bibliographischer Tatsachen hinausgehend, setzt dann spätestens Gervinus mit seiner Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen (1835) endgültig durch.' (S. 57) Anders als die herkömmliche Literärgeschichte ging Grimm, den die Frage nach der Verfertigung einer Geschichte der Poesie nachweislich seit 1805 umtrieb, von einer starken Fokussierung auf die Literaturgeschichte selbst und einem Literaturbegriff aus, der auch die ' übrigens bis in die Gegenwart reichende ' Mündlichkeit einschloss. Er gliederte seine Geschichtsschreibung in vier Perioden: den ersten Schnitt legte er in die Regierungszeit Karls des Großen, den zweiten in die Reformation, den dritten ins 18. Jahrhundert. Die Perioden grenzte er durch begünstigende und hemmende historische Bedingungen gegeneinander ab. So heißt es z. B. zum Beginn der ersten Periode: 'Sie enthält [...] die ungestörte Kraft der deutschen Völker, die sich in frischem Leben an die ermattete Reg[ierung] der Römer wagt.' (S. 244f.; deutsch müssen wir dabei in der sprachhistorischen Verwendung Grimms als germanisch verstehen.) Oder: 'Von der Reformation bis zum 18ten Jahrhundert. Periode der Verwirrung, wo die frühen Keime und Blüten vernichtet, aber auch Samen zu neuer Ernte eingestreut wird.' (S. 245) Zwei Blütezeiten begründen den Stolz auf die Literatur der eigenen Nation: die Dichtung der Stauferzeit, die, Gipfel jeder literarischen Kunst, das Epos hervorbrachte, und, Höhepunkt der Entwicklung, die Weimarer Klassik. Beide sind durch eine im Sinne Grimms herausragende Naturpoesie gekennzeichnet, die Stauferzeit durch Nibelungenlied und Kudrun ' 'Die Niebelungen der größte Schatz unser Poesie.' (S. 292) ', die Weimarer Klassik durch Goethe ' 'Der größte Dichter unsrer Literatur ist Johann Wolfgang Göthe. Er ist wahres gediegnes Gold [...].' (S. 433) Diese ist es rückblickend denn auch, die schließlich die deutsche Literatur zu einem 'Gegenstand des Stolzes und der Erhebung' (S. 453) macht: 'Durch unsre Literatur werden wir beschenkt, viele a[ndere] Völker sind uns voran gezogen, wir folgten ihnen schwerfällig nach, aber durch unsre Beharrlichkeit haben wir den Sieg über sie davon getragen [...]. Unsere Sprache reicht über ihre poetischen Grenzen hinaus, erwirbt uns hier überall Freu[n]de [?] und Anhänger. Zuletzt kann sich der Fremde nicht enthalten, uns nachzuahmen. Schon jetzt in der französischen und englischen Literatur entschieden Deutsche Richtung zu bemerken.' (S. 453)