"Wâ ez sich êrste ane vienc, Daz ist ein teil unkunt".
Abgründiges Erzählen in der 'Krone' Heinrichs von dem Türlin

Der Ritterroman 'Diu Crône' hat sich in jüngster Zeit zu einem Lieblingskind germanistischer  Interpretation gemausert. Einst als 'nachklassisch' schnell vom Podest höfischer Höhe gestoßen, reizt heute gerade seine ungewöhnliche und abgründige Erzählweise. Er wolle es, so der Autor-Erzähler im Paratext, anders machen als seine Vorgänger, die schon von mancherlei Heldentaten des Königs Artus erzählt hätten; er möchte den Anfang ' 'wâ ez sich êrste ane vienc' ' präzise ausleuchten und dabei gerade das Unbekannte ins kollektive Gedächtnis zurückholen, nämlich die Geschichte des etwa zwanzigjährigen Königs und seines Neffen Gawein, etwa 15/16 Jahre alt.

Kaminski, den Lektüren des Philosophen Foucault und des Historikers Duby verpflichtet, lehrt 'Diu Crône' neu zu lesen. Sie liest den mit mancherlei Subtexten durchzogenen Roman als ein Spiel mit Anachronismen und doppelter Zeitrechnung, wodurch eine diskursive Spaltung des Romanpersonals ermöglicht werde, die erzählerisch durch Zauber erreicht wird. Was den Interpreten einst als eine erhebliche Anhäufung von Unklarheiten galt, wird durch diesen Griff ins Unbewußte zu einem wohl organisierten Werk. Erzählt wird auf der 'Grenze zwischen narrativer 'terra cognita' und narrativer 'terra incognita'' (S. 63), zwischen einer Welt des Bewußtseins, die der Vernunft zugänglich ist, und einer Anderswelt der Bewußtlosigkeit, in der die 'âventiure' im eigenen Ich lokalisiert ist. So werden etwa dem Protagonisten Gawein, den eine permanente 'müede' ' keine bloße Schläfrigkeit und Trance, sondern 'Versunkensein ins eigene Ich' (S. 106) ' auszeichnet, verschiedene Identitäten zugesprochen, die ihn auf den Zustand der Grenze bringen. Die in der bisherigen Erzähltradition einmaligen, auf Gawein bezogenen Wunder- oder Abenteuerketten, sind ein 'experimenteller Vorstoß' in den ''dunklen' Bereich einer nicht rational durchstrukturierten Innenwelt' (S. 76), aus der der Held, nachdem er sie durchlaufen hat, als ein anderer wiederauftaucht, sodaß der junge Gawein das Bild des älteren Gawein wahrnimmt und man nicht von 'einer' Gaweinfigur in 'einem' Zeitkontinuum sprechen kann. Auch mit Gasoein, dem stürmischen Liebhaber der Königin, seinerseits ein ''neuer Tristan'' (S. 187), soll Gawein im Sinne einer 'subtextuellen Doppelgängerschaft' (S. 161) identisch sein.

Kaminskis philologisch professionelle Studie ist zweifellos ein Gewinn, wenn mir auch ihr Versuch der partiellen Entzauberung des Romans manchmal zu spekulativ erscheint.