Zeitenwechsel
Weltliche Stoffe des 12. bis 14. Jahrhunderts in Meisterliedern und motivverwandten Dichtungen des Hans Sachs

 'Mein kurzweil aber ist gewesen / Von jugent auf puecher zw lesen', dichtet Hans Sachs am Ende seines Lebens. Sein Werk ist bis heute nicht kritisch aufbereitet, geschweige vollständig ediert. Der gebildete Schuhmachermeister gehört zu den wichtigsten Vermittlern mittelalterlicher Literatur in der frühen Neuzeit, und er selbst nahm in der Regel eher die populären Stoffe des Mittelalters auf. In drei Kapiteln ' Problemstellung, Analyse, Ergebnisse ' erhellt Neumann methodisch reflektiert dieses noch immer recht dunkle Feld. Er analysiert präzise und überzeugend u.a. Rezeption und Wirkung des 'Prosa-Tristrant', der 'Gesta Romanorum', der 'Bescheidenheit' Freidanks, des 'Salomon und Markolf'-Komplexes, des 'Neidhart Fuchs', der 'Reisen' von Jean de Mandeville, der 'Disticha Catonis', des 'Buchs der Natur' Konrads von Megenberg, des 'Heißen Eisens' von Stricker und des 'Renners' Hugos von Trimberg. Sachs wählte als Vorlagen Drucke und Handschriften, gelegentlich bemühte er sich dabei sogar um mehrere Fassungen eines Textes, und mit manchem der Stoffe, denken wir vor allem an die kleineren Mären, kam er, vielleicht in seiner Singschule, auch mündlich in Kontakt. Seine Stoffe wählte er unter dem Gesichtspunkt ihrer didaktischen Verwertbarkeit aus. Kurzweil, die Melancholie, die 'Grillen', zu vertreiben, und Unterweisung ' dies waren die leitenden Gesichtspunkte seiner Arbeit, die er mit den meisten Autoren seiner Zeit teilte, erinnern wir nur daran, wie beide Aspekte gebetsmühlenartig in den Vorreden der Historienromane wiederholt werden und wie sie in Erinnerung an das antike Modell auch schon die Dichtung des Mittelalters bestimmten. Sachs allerdings räumt der direkten, nicht  kunstvoll verschleierten Unterweisung in der Regel einen enorm hohen Stellenwert ein, und nur selten dominiert die unterhaltende Funktion. Ob man aus den seltenen Zeugnissen allerdings schlussfolgern kann, dass sich hier 'erste Verwerfungslinien' (S. 282) einer im Mittelalter noch festen funktionalen Kodierung 'unterhaltend und nützlich / nicht unterhaltend und nicht nützlich' zeigten, stehe dahin, zumal es ohnehin problematisch ist, Unterhaltung und Unterweisung im Sinne schwebender Waagschalen gegenüberzustellen.
Sachs, der nicht mehr für ein höfisches und partiell gebildetes Publikum schreibt, sondern vorrangig für die nur schwach alphabetisierte stadtbürgerliche Mittel- und Unterschicht, nimmt Abschied vom höfischen Leben. Nicht etwa von dessen zivilisatorischem Impetus, sondern 'in einer Reorganisation des Tugendkanons und ' hiermit verbunden ' im Untergang eines der zentralen Momente der höfischen Gesellschaftsorganisation, der Minnesystematik.' (S. 283) Von Minne kann zwar noch erzählt werden, 'doch sie kann nicht mehr aus sich selbst heraus das Verhalten der Personen erklären.' (S. 292) Dem mangelnden Wissen seines Publikums um das Höfische, das für die rezipierten Texte notwendig ist, begegnet Sachs durch eine umfangreiche Darstellung des höfischen Lebens und durch Vereinfachung, sodass zum Verstehen der höfischen Motivik 'nur noch ein relativ schlichter Begriff von höfischer Kultur notwendig' (S. 287) ist.
Nicht nur das ritterlich-höfische, auch das betont christliche Deutungsmuster mittelalterlicher Literatur wird von Sachs den Bedürfnissen der stadtbürgerlichen Gesellschaft angeglichen. Zwar bleibt die christliche Religion weiterhin der fundamentale Bezugspunkt, doch ist das traditionelle ordo-Modell 'nicht mehr Grundlage des Denkens und nicht mehr Grundlage der Literatur.' (S. 305) So steht Hans Sachs auch hier auf der Schwelle zwischen Mittelalter und früher Neuzeit.
Ein umfangreicher Anhang enthält einige bislang ungedruckte Meisterlieder von Hans Sachs.