'Die von mir besichtigten Ghettos in Warschau und Lodz zeigten kein besonders negatives Bild, abgesehen davon, dass die zwangsweise Zusammendrängung der Juden auf den Bevölkerungs- und Gesundheitsstand höchst negativ wirken mußte' (S. 215). Derart kalt und technokratisch erscheinen Hunger, Elend und Sterben in den von den Nationalsozialisten eingerichteten Ghettos, wenn ein Mann wie Peter-Heinz Seraphim, ein profilierter Ost- und 'Judenforscher', darüber in seinen Nachkriegserinnerungen schreibt. Hans-Christian Petersen untersucht Seraphims Leben und seine Forschung nun in einer biographischen Studie, der veröffentlichten Fassung seiner 2006 an der Universität Kiel eingereichten Dissertation.
Petersen beschränkt sich nicht auf Seraphim als prominenten 'Judenforscher' in der NS-Zeit. Nicht minder ausführlich und fundiert nimmt er seinen Werdegang vor 1933 und insbesondere auch 'Neuanfang und Neuorientierung nach 1945' in den Blick. Dabei stützt sich Petersen außer auf die Veröffentlichungen Seraphims auf eine Vielzahl an Quellen aus Deutschland, Lettland und Polen. Einen Nachlass konnte Petersen nicht ausfindig machen, diesen gibt es nach Auskunft der Familie nicht, gleichwohl kann er die Ergebnisse seiner Archivrecherchen mit einem umfangreichen Erinnerungsmanuskript Seraphims kontrastieren.
Der 1902 in einem Vorort Rigas geborene Seraphim wuchs im strikt deutsch-nationalen Milieu der deutschbaltischen Oberschicht auf und erlebte schon früh tiefgreifende politische Umbrüche. Nach zeitweiliger Beteiligung an den Kämpfen deutscher Freikorps im Baltikum wechselte Seraphim nach Königsberg, wo er sich dem Studium der Ökonomie widmete. Danach begann seine wissenschaftliche Laufbahn im Fahrwasser von NS-Ostforschern wie Theodor Oberländer. Früh schon begann er mit der Erforschung der Juden in Mittel- und Osteuropa und wurde innerhalb weniger Jahre zu einem der führenden 'Judenforscher', manifestiert durch seine umfangreiche Monographie über 'Das Judentum im osteuropäischen Raum' (1938). Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs betätigte er sich im besetzten Polen als ein wichtiger 'Vordenker der Vernichtung' (Aly/Heim), der sich mit radikalen bevölkerungspolitischen Planungen profilierte, die ein 'Verschwinden' der Juden voraussetzten. Diese und andere Forschungen brachten ihn in große Nähe zum 'Institut zur Erforschung der Judenfrage', dessen Zeitschrift 'Weltkampf' er längere Zeit als Schriftleiter führte. Petersen seziert Seraphims Beitrag zum sich radikalisierenden Prozess der Judenverfolgung und schließlich -ermordung sehr genau und argumentiert besonnen und umsichtig.
Das gilt in besonderem Maße auch für die überaus gelungene Darstellung und Analyse von Seraphims Weg nach 1945, die alleine schon Petersen Buch zu einer echten Bereicherung der Forschung machen. Er zeigt einmal mehr und das sehr eindrücklich, dass in der vermeintlichen 'Stunde Null' sehr viel mehr Kontinuität als Bruch war. Vor allem aber zeichnet Petersen detailliert nach, wie diese Kontinuität, die Anpassungs- und Neuerfindungsprozesse von Seraphim mit Hilfe personeller Netzwerke organisiert wurden. Trotz aller Bemühungen gelang Seraphim zwar kein Wiederanknüpfen an seine akademische Laufbahn, zu exponiert war seine Stellung als 'Judenforscher' vor 1945 gewesen. Dennoch durchlief er Kriegsende und Neubeginn relativ unbeschadet: Internierung und Entnazifizierung wurden zu keiner Gefahr für ihn; mit deren Abschluss galt er als unbelastet. 1954 schließlich erhielt er mit der Leitung der Bochumer Verwaltungsakademie eine gesicherte Position.
Petersen liefert mit seiner biographischen Studie über Peter-Heinz Seraphim nicht nur einen wichtigen Beitrag zur kritischen Bestandsaufnahme der NS-Ost- und Judenforschung, sondern auch tiefe Einsichten über Kontinuitäten und Brüche deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert.