Lulu, Lolita und Alice
Das Leben berühmter Kindsmusen

Um es gleich vorweg zu nehmen: Sämtliche Bedenken, die man angesichts des Themas 'Kindsmusen' haben könnte, sind bei diesem Werk völlig unangebracht. Alexandra Lavizzari nämlich legt eine literaturhistorische Arbeit im allerbesten Sinne vor, die es versteht, ohne Voyeurismus über eine gar nicht so seltene Neigung bei Schriftstellern gerade des 19. Jahrhunderts zu sprechen, den Zusammenhang mit der Genese der jeweiligen literarischen Werke zu zeigen und dennoch zu verdeutlichen, daß die Hinwendung zu Kindfrauen und ihre Vergötterung eine psychosoziale Störung darstellt. Schon die Einleitung setzt den Leser auf die richtige Fährte: Ausgehend von der Bedeutung der Muse im Allgemeinen für künstlerische Prozesse (Lavizzari zitiert hier Meret Oppenheim) und der Beobachtung, daß die Muse 'als starke, selbstbewusste Frau ' mit wenigen Ausnahmen eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts' ist (S. 8), skizziert die Autorin präzise, ab wann sich die Beurteilung der Rolle von Kindsmusen änderte: 1886 ist hier das entscheidende Datum, das Jahr, in dem Richard Freiherr von Krafft-Ebing seine Abhandlung 'Psychopathia Sexualis' vorlegte und 'endgültig mit der Verharmlosung aufräumte' (S. 19). Krafft-Ebing 'unterschied zwischen aktiven Kinderschändern und Männern, die aus Mangel an Mut und Vertrauen in die eigene Männlichkeit ihre Faszination für vorpubertäre Mädchen und Knaben in eine Art platonische Liebe sublimieren.' (ebd.) Diese Studie und das mit ihr geweckte Bewußtsein änderte freilich nicht nur die Wahrnehmung Dritter, sie führte auch bei den Betroffenen selbst zu einer Neubewertung, die nicht selten das Leid (das in den meisten Fällen mit den unerfüllten Sehnsüchten verbunden war) noch vergrößerte: 'Männer wie [Lewis] Carroll wähnten sich durch Krafft-Ebings rasch verbreitetes Buch von einem Tag auf den anderen auf der Anklagebank.' (ebd.)
In ihren sieben sich anschließenden Porträts vermag Lavizzari hervorragend zu zeigen, wie diese ungleichen Liebesbeziehungen funktionierten und welche Folgen sie für die Beteiligten hatten. Eindringlich schildert sie so Thomas de Quinceys 'Nympholepsie' und zeigt, wie Novalis nach dem Tod seiner jungen Braut Sophie von Kühn einen regelrechten Totenkult betrieb, der dazu führte, daß die 'leibliche Sophie, die er verloren hatte, immer stärker hinter einer Idealfigur zurück[wich]' ' der allerdings auch die 'Hymnen der Nacht' und damit eines der bedeutendsten Werke der Romantik möglich machte. Virginia Clemm, Edgar Allan Poes 'Dark Lady' konnte ihren Verehrer dagegen sogar heiraten, wenngleich dies nur mit einer massiven Lüge vor dem Standesbeamten gelang (Virginia war keine 14 Jahre alt, die Heiratsurkunde weist sie dagegen als 21-jährige aus). Bezeichnend für die Beziehung zwischen Poe und seiner Kindfrau war, daß der Dichter seine Liebe u.a. in Kurzgeschichten verschlüsselte, in deren Zentrum eine bedrohliche Frauenfigur steht: Sie 'legen die Interpretation nahe, dass Poe ein gewisses Unbehagen bezüglich seiner Liebe zu einem so jungen Mädchen ' literarisch verarbeitet hat.' (S. 89)
Das umfangreichste (und eindrucksvollste) Kapitel widmet Alexandra Lavizzari der Beziehung zwischen dem viktorianischen 'Kunstpapst' John Ruskin und Rose La Touche. Über Jahre hinweg betete Ruskin, dessen erste Ehe geschieden worden war, weil er den ehelichen Pflichten nicht nachkommen konnte oder wollte, seine 30 Jahre jüngere Muse an, die ihm zum Zentrum des Lebens geriet. Für beide war diese Liebestragödie fatal: Sie kostete 'der Tochter des Gutsherrn [La Touche] schließlich das Leben und ihrem Freier den Verstand' (S. 105). Die Beziehung wurde von beiden obsessiv betrieben; Briefe wechselten geradezu fiebrig hin und her, Ruskin verbrachte Tage damit, scheinbar geheime Zeichen seiner Angebeteten auszudeuten, Rose dagegen wehrte sich mit Vehemenz gegen jede Form der Erotisierung ihres Verhältnisses und flüchtete sich immer weiter in religiöse Wahnzustände. Völlig aus den Fugen geriet die Beziehung, als Ruskin Rose einen Heiratsantrag machte: 'Den Menschen Ruskin konnte sie lieben, nicht aber den Mann, als der er sich plötzlich zu erkennen gegeben hatte' (S. 125) ' da war Rose freilich schon kein Mädchen mehr. Als sie am 25. Mai 1875, 24 Jahre nach der ersten Begegnung mit Ruskin, starb, konnte der ihren Tod schließlich 'als Mittel der endgültigen Vergeistigung seiner Geliebten ' verstehen und gutheißen. ' Die Unschuld, die ihn an Rose so sehr fasziniert hatte, war gewahrt, denn Rose war ' fast zu seinem Glück ' gestorben, bevor die erotische Liebe ihn mit einer konkreten Möglichkeit hätte bedrohen können.' (S. 141)
Der prominenteste Fall, der von Lavizzari behandelt wird, ist sicher der Alice Liddells und Lewis Carrolls. Kaum ein Detail ist unbekannt aus dieser Beziehung, die anders als alle anderen Kinderlieben des Autors auch über die Pubertät des Kindes hinaus ' wenn auch unter gänzlich anderen Vorzeichen ' fortgeführt wurde und ihren Höhepunkt in der wohl 'berühmtesten Bootsfahrt der Literaturgeschichte' am 4. Juli 1862 fand (Carroll erzählte hier aus dem Stegreif 'Alice in Wonderland', das er erst später auf Alices Wunsch hin zu Papier brachte). Und doch vermag die Autorin auch diese Geschichte spannend zu erzählen ' und es überkommt einen sogar große Rührung, wenn man wieder liest, wie sehr Alice Hargreaves (geb. Liddell) am Ende ihres Lebens, in dessen Zentrum so oft die andere, die fiktionale Alice stand, die ihrem Vorbild gar einen Ehrendoktor der Columbia University einbrachte, es satt hatte, die Wonderland-Alice zu sein: 'Hört sich das wie Undankbarkeit an? Wohl schon ' aber ich bin es wirklich leid.' (S. 175)
Ein wenig aus dem Rahmen fallen schließlich die letzten beiden Kapitel des Buches: Wladyslaw von Moes, Vorbild des Tadzio im 'Tod in Venedig', stand nie wirklich in einer Beziehung zu Thomas Mann, im Gegenteil, der polnische Baron vermied eine Kontaktaufnahme selbst nach dem Erscheinen einer Übersetzung des Romans, in dem er sich sofort wieder erkannte. Dennoch ist die 'heimliche Gefühlsintrige zwischen Wladyslaw und Mann' (S. 191) eine ' wie man sehr gut weiß ' sehr folgenreiche für die Literatur gewesen. Zwar geriet Mann durch die Begegnung emotional nahezu aus der Bahn, doch nach seinem Roman 'Königliche Hoheit', 'dessen 'Abstieg ins Flachland des Optimismus' ihm so sehr zum Vorwurf gemacht worden war' (S. 186), konnte er mit der literarischen Verarbeitung im 'Tod in Venedig', dessen 'symbolisches Beziehungsgeflecht ' das Leben selbst in jenen Maitagen 1911 wie ein Geschenk vor ihm ausgebreitet' hatte (S. 185), auch eine künstlerische Krise überwinden.
Auch die letzte Protagonistin, Gisèle Prassinos, ist ein einzigartiger Fall: Nicht so sehr Muse im klassischen Sinne war die 14-jährige, als sie von führenden Surrealisten entdeckt wurde,  sondern vielmehr ein Vorzeigekind für deren Programmatik. André Breton, Gründer und Übervater der Bewegung, deutete ihre Geschichten und Gedichte als Paradebeispiele für 'textes automatiques' und 'Gisèles Unschuld als die Gabe, sich direkten Zugang zum Unbewussten verschaffen zu können, den Erwachsene zwar eingebüßt haben, aber auf dem Weg des Surrealismus zurückerobern können.' (S. 209) Daß diese Annahme so ganz nicht zutraf, war allerdings selbst der jugendlichen Autorin klar, die je älter sie wurde, desto  uninteressanter für Breton war. Es dauerte Jahre, wie Alexandra Lavizzari zeigt, bis sie sich gegen ihre einstigen Bewunderer emanzipieren konnte. Nicht ganz ohne Genugtuung stellt die Autorin am Ende jedoch fest, daß Prassinos 'noch immer in Paris' lebt und 'ihren eigenen künstlerischen Weg', der sie heute eher in die gestaltende Kunst führt, 'unbeirrt weiter' geht (S. 217).
Man darf zusammenfassen: Alexandra Lavizzari hat eine bedeutende Studie vorgelegt, die Fachleuten wie Laien gleichermaßen ein Problemfeld vor Augen führt, das bislang in der Forschung vernachlässigt wurde. Sie verdient daher viele Leser.