Der vorliegende Band präsentiert die Beiträge und Ergebnisse einer Tagung, die im April 2003 in Bern durchgeführt wurde. Unmittelbarer Anstoß, 'Europa im späten Mittelalter' zu thematisieren, war das Jubiläum '650 Jahre Bern im Bund der Eidgenossen (1353-2003)'. Dabei erfolgt eine Annäherung und erfolgreiche Durchdringung der Thematik unter drei wesentlichen Fragestellungen und methodischen Zugriffen: 1. Politik (Politische Geographie, Monarchien, Alternativen), 2. Gesellschaft (Stände, Eliten, Gruppen), 3. Europäische Kulturen (Mobilität, Kunst- und Bildungstransfer).
Der Versuch einer Zusammenfassung und Kommentierung der Beiträge in den einzelnen Sektionen wurde trotz aller bekannten hiermit verbundenen Schwierigkeiten nicht gescheut. Der Tagungsbericht dokumentiert auf seine Weise erneut und überzeugend die Fruchtbarkeit eines komparatistischen Ansatzes sowie die dringende Notwendigkeit einer Weitung des historischen und politischen Horizonts zu einer europäischen Perspektive.
So wertvoll und anregend zahlreiche Einzelbeiträge auch sind, so bleiben doch kritische Anfragen an die Gesamtkonzeption ' dies umso mehr, da der zentrale Europabegriff ebenso wie das Kulturverständnis durchaus vage, widersprüchlich und ungenügend reflektiert erscheinen.
Kaum zufällig wird das ansprechende Bild vom bunten Blumenstrauß bzw. dem Vorführen einer 'Blütenlese' wiederholt gebraucht. Die Anspielung auf die Vielfalt der wirkenden Kräfte und Phänomene, die sich in dem Reigen der Beiträge spiegeln sollen, macht allerdings die Fragen nach der Bedeutung der regionalen Differenzen, dem unterschiedlichen Entwicklungstempo sowie der Ethnien nur umso dringlicher bewußt ' ganz zu schweigen von dem unvermeidbaren Problem der Abgrenzung nach außen und der Frage einer stimmigen Binnengliederung.
In jeder Weise problematisch erscheint die Vorstellung von einem papstloyalen Europa ' die Formulierung 'papstchristlich' mutet geradezu blasphemisch an. Universaler Anspruch und reale Möglichkeiten des römischen Stuhls klafften im Regelfall weit auseinander. Faktum und Fiktion, Mythos und Geschichte, Propaganda und Realität papaler Existenz müssen sauber analysiert und auseinander gehalten werden. Vor allem aber sollte tunlichst vermieden werden, Juden, Ketzer und Byzantiner geradezu aus Europa zu verbannen.
Damit ist zugleich die Frage impliziert, die das wichtigste und wohl schwerwiegendste Ereignis des spätmittelalterlichen Europa betrifft, das bis heute unmittelbar nachwirkt. Gemeint ist der tragische Untergang von Byzanz und die dadurch möglich gewordene Eroberung und Beherrschung Südosteuropas durch die Osmanen. Gerade weil die Rolle des lateinischen Westens für die Katastrophe der jahrhundertelang weit überlegenen östlichen Kaisermacht umstritten ist, ist die weitgehende Ausblendung dieser zentralen Thematik besonders bedauerlich.
Das forcierte Interesse an den Eliten ist auffällig und problematisch und zeigt erneut, in welche Gefahren die einseitige Quellenüberlieferung den (rückblickenden) Historiker bringen kann. Ausgesprochen schwierig und geradezu doppeldeutig erscheint die vielfach wiederholte Vorstellung von der Verdichtung des Reiches um 1500. So unbestritten die Tendenzen zu fürstlicher Machtkonzentration und einer intensivierten (sozialen) Vernetzung auch sind und die Ausbildung unverzichtbarer Institutionen im Sinne der Reichsreform Ergebnisse zeigten, so bleibt doch die ernüchternde Bilanz: Das Reich hat sich niemals zum modernen Staat 'verdichtet' (ungeachtet vieler ehrenhaften Bemühungen und Ansätze). Vielmehr hat der kraftvoll wachsende Regionalismus die Möglichkeiten und Bedeutung der Zentralgewalt sehr stark eingeschränkt. Die zentrifugalen Kräfte waren längerfristig weit stärker und erfolgreicher als die gerne beschworenen Ansätze zu einer 'Verdichtung'. Es ist in der Tat wenig sinnvoll, fragmentarische Ansätze zu verabsolutieren bzw. überzubewerten.
Die Hervorhebung zahlreicher offensichtlicher Kontinuitäten im Bereich von Wirtschaft, Gesellschaft und Verfassung sollte aber nicht die langfristig viel wesentlicheren geistigen und kulturellen Umbrüche in Vergessenheit geraten lassen. Dazu zählt in gleicher Weise die Sprengung des geographischen Weltbildes seit Kopernikus und Columbus, die durch Gutenberg und den Buchdruck ausgelöste Medienrevolution sowie der Pluralismus mehrerer Konfessionen und Theologien auf biblischer Grundlage im Gefolge der Reformation Luthers und Calvins. Das heißt mit anderen Worten: So berechtigt der Begriff Alteuropa und die hiermit verbundenen Vorstellungen für den Bereich der Wirtschafts- und Sozialgeschichte sind, so unbrauchbar und irreführend ist er für die Geistes-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Das Entwicklungstempo der einzelnen Sparten der Geschichte ist im Regelfall höchst unterschiedlich.
Alles in allem wird man ungeachtet schmerzlicher Defizite die vorgelegten Vorträge und Forschungen über 'Europa im späten Mittelalter' begrüßen. Dabei wird dem kritischen Leser allerdings bewußt, daß die 'Weltgeschichte Europas' aus der Feder von Hans Freyer, die Begründung der Ostmitteleuropamediaevistik nach dem Zweiten Weltkrieg und nicht zuletzt das vorzügliche Handbuch der Europäischen Geschichte (hg. von Theodor Schieder) nicht nur eine entscheidende Basis, sondern auch hohe Maßstäbe für die Europaforschung gesetzt haben. An diesen wird auch der hier angezeigte Tagungsbericht zu messen sein.