England im Mittelalter

Der weltweite Siegeszug der angelsächsischen Kultur könnte zu der Vermutung Anlaß geben, auch in Deutschland ein breit fundiertes Interesse und intensive Forschungen ' insbesondere über die englische Geschichte ' vorzufinden. Zumindest was die älteren Epochen betrifft, kann hiervon kaum die Rede sein. Umso mehr darf man daher den von Sarnowsky vorgelegten Band begrüßen, der einen fundierten Abriß der mittelalterlichen englischen Geschichte bietet. Dabei übernimmt der Autor die traditionelle Dreigliederung, so daß l. das angelsächsische England (um 400-1066), 2. das normannische und angevinische England (1066-1272) sowie 3. England im Spätmittelalter (bis 1485) in je eigenen Kapiteln zur Darstellung kommen. In durchaus überzeugender Weise sind jeweils ein chronologischer Durchgang mit einer systematischen Betrachtung und Darstellung verbunden. Eine Tabelle mit den allerwichtigsten Daten, weiterführende Literaturhinweise, genealogische Tafeln, Karten sowie ein Personenregister treten als willkommene Ergänzung hinzu.
Überblickt man die konzise Darstellung von ca. 1000 Jahren englischer Geschichte, d.h. der Epoche von der angelsächsischen Landnahme nach dem Abzug der Römer aus Britannien (bis 407) bis zum Herrschaftsantritt der Tudor-Dynastie unter Heinrich VII. (1485), so werden mindestens fünf langfristige Strukturprobleme deutlich erkennbar, die für die Geschichte und Identität Englands von grundlegender Bedeutung waren und blieben:
1) Zunächst und vor allem stellt sich immer wieder die Frage nach einem englischen Sonderweg. Das heißt mit anderen Worten: Das Wechselspiel zwischen England und dem Kontinent spielt von Anfang an eine entscheidende Rolle und bestimmt noch den Ausgang der Rosenkriege. Der selbstverständlichen Teilhabe an gesamteuropäischen Entwicklungen sowie dynastischen Verbindungen mit dem Kontinent konnten Phasen und schließlich (in der Neuzeit) Epochen einer weitgehend autochthonen insularen Entwicklung folgen.
2) Von vergleichbarer Bedeutung ist die Frage nach der Zäsur von 1066. Hier stellt sich das immer wieder erörterte englische Kontinuitätsproblem, an dem sich bis heute die Diskussion polarisiert und bei dem eine einvernehmliche Bewertung schwierig oder gar unmöglich erscheint. Alleine der Schritt von der seit zwei Jahrhunderten gewachsenen Orientierung und Bindung an Skandinavien hin zu einer politischen und kulturellen Ausrichtung nach Frankreich läßt die Dimensionen des Geschehens und Wandels erahnen.
3) Nicht minder interessant ist die Frage nach der werdenden und wachsenden Einheit Englands, an deren Ausgangspunkt die 'Heptarchie' der angelsächsischen Königreiche steht. Der grundlegende Beitrag gerade auch der mittelalterlichen Jahrhunderte für einen vergleichsweise frühen und raschen Konsolidierungsprozeß ist unbestreitbar und zugleich eine wesentliche Voraussetzung für die politische Einigung der gesamten Insel (in der Neuzeit). Auch wenn sich dieser Weg als weit schwieriger und weniger gradlinig gestaltete als dies im Rückblick erscheinen mag, so kann die Lösung der Kohärenzfrage als überaus eindrucksvoll und geradezu einmalig bezeichnet werden.
4) Der kirchliche Weg Englands ist seit der Ankunft Augustins in Kent (597) und der Richtungsentscheidung der Synode von Whitby (663/64) durch eine frühe und eindeutige Rombindung gekennzeichnet, was alternative Orientierungen ausschloß. Bis zu welchem Grade sich der päpstliche Einfluß bzw. Herrschaftsanspruch allerdings steigern konnte, zeigt die Verhängung des Interdikts über England, die Bannung König Johanns sowie die erzwungene Lehnsnahme des Landes von der römischen Kirche (1208-1214). Nicht zuletzt diese einschneidenden Erfahrungen, die die Verfassung und das Selbstverständnis des Königreiches erheblich tangieren mußten, bilden den Hintergrund für die endgültige Lösung der englischen Kirche von Rom (Act of Appeals) sowie der Suprematsakte Heinrichs VIII. (1534). Am Beginn der englischen Reformation steht somit eine eindeutige staatsrechtliche Regelung, die in Konsequenz übler Erfahrungen dem römischen Zentralismus und Lehramt eine eindeutige und endgültige Absage erteilte.
5) Die Krise des englischen Spätmittelalters ist gekennzeichnet durch einen nahezu nahtlosen Übergang des Hundertjährigen Krieges auf dem Kontinent zu den Rosenkriegen. Die hieraus resultierenden vielfältigen Schwierigkeiten der monarchischen Gewalt ' bedingt durch längere Abwesenheiten, dynastische Probleme und nicht zuletzt einen permanent wachsenden Finanzbedarf ' waren zugleich die Voraussetzung für die wachsende Bedeutung des Parlaments seit dem 14. Jahrhundert. Der schrittweise Wandel von einer erweiterten Ratsversammlung zu einer immer kraftvolleren Vertretung des Königreiches, die eine immer wichtigere Rolle in der Politik des Landes einnahm, wird immer deutlicher erkennbar. Eine unschätzbare Momentaufnahme, die Einblick in die Genese einer der wichtigsten englischen Institutionen gewährt, ist ohne Zweifel der 'Modus tenendi Parliamentum' (1320). Das Zusammenspiel von König und Parlament, dessen Differenzierung in zwei Kammern sich ebenfalls im 14. Jahrhundert abzeichnete, wird immer fragloser zum Eckstein einer 'ungeschriebenen Verfassung'.
Man wird abschließend sagen dürfen, daß die von Sarnowsky gewählte Zäsur des Dynastiewechsels von 1485 ihre bleibende Berechtigung hat ' andererseits ist aber offenkundig, daß viele bereits im Mittelalter angelegten Entwicklungen erst in der Moderne ihre volle Entfaltung erlebten, dann allerdings häufig einen modellhaften Charakter erhielten. Beide Zeitalter bilden daher in der englischen Geschichte eine unlösliche ' geradezu dialektische ' Einheit. Dieser evidente Zusammenhang hält das Interesse an den älteren Epochen bis heute lebendig, für die jetzt eine ansprechende und empfehlenswerte Überblicksdarstellung vorliegt.