Ottonische Königsherrschaft

Das 10. Jahrhundert gehört zu den ausgesprochen quellenarmen Epochen, in denen sich grundlegende Wandlungen vollzogen haben, über die wir gerne noch weit mehr wüßten. Neue Erkenntnisse und Deutungen verdanken sich daher am wenigsten einer Erweiterung der Quellenbasis. Vielmehr können alleine neue Fragestellungen (an die weithin bekannten Quellen), alternative methodische Wege und insbesondere systematische Vergleiche (mit anderen Epochen und Regionen) zu einer vertieften und damit veränderten Sicht des Jahrhunderts ' und insbesondere der Wende vom Früh- zum Hochmittelalter ' führen. Unter dem genannten Aspekt rechtfertigt sich in jeder Weise die Herausgabe der Aufsätze von Hagen Keller zur Ottonenzeit, die den Weg zu einer differenzierten Deutung und Neubewertung gehen ' immer verbunden mit einem geschärften und sensiblen Bewußtsein für den jeweils gewonnenen Grad an Staatlichkeit. Für das wissenschaftliche Gespräch dürften vor allem drei Themen und Thesen befruchtend sein:
1) Neben der materiellen Basis und sozialen Verantwortung war für das ottonische Königtum vor allem die transzendentale Legitimierung wichtig und konstitutiv. Die liturgische Präsentation der Königsherrschaft versicherte und demonstrierte, daß der gesalbte und gekrönte Monarch als 'vicarius Christi' waltete und das von ihm regierte Reich wesentlicher Teil einer umfassenden göttlichen Weltordnung war. Die Weihe verlieh zudem Teilhabe am bischöflichen Amt ' zumal der König sich dezidiert als Mittler zwischen Klerikern und Laien verstand. Die künstlerische Gestaltung des ottonischen Herrscherbildes in Perikopenbüchern, Sakramentaren und Evangeliaren unterstreicht eindrucksvoll die Würde des sakralen Königtums und den auf ihm ruhenden Segen des Höchsten. Sinn und Bedeutung irdischer Regentschaft blieb stets die erwartete Teilhabe an der Königsherrschaft Christi. Diese in ihrer Unbedingtheit nicht weiter hinterfragbare und geradezu unanfechtbare Legitimierung hat erstmals der Investiturstreit dem Kaiser streitig gemacht, ohne den Gedanken und die inzwischen tief verwurzelte Vorstellung des Gottesgnadentums dauerhaft erschüttern zu können.
2) Den entscheidenden Schritt zur Bildung des ostfränkisch-deutschen Reiches sieht Keller in dem sächsisch-fränkischen Bündnis, das die Wahl Heinrich I. ermöglichte und seiner Herrschaft eine kraftvolle Basis verlieh. Anders als die beiden zwei königstragenden Landschaften, die den entscheidenden Konsolidierungsprozeß einleiteten, wahrten die beiden oberdeutschen Herzogtümer (Bayern und Schwaben) bis zu Ende des 10. Jahrhunderts einen vizeköniglichen Charakter, was sich nicht zuletzt sehr prägnant im Herrscheritinerar spiegelt. Erst die von Otto III. verfolgte Idee und Politik der Renovatio Imperii überwand die ältere gentile Reichskonzeption und damit die Sonderstellung der süddeutschen Herzogtümer. Unter Heinrich II. sind dann der deutsche Norden und Süden im Herrscheritinerar ausgewogen berücksichtigt, so daß (kaum zufällig) der Begriff 'regnum Teutonicum' bzw. 'regnum Teutonicorum' sich bald nach 1000 schrittweise verbreitete und in der zweiten Jahrhunderthälfte endgültig Anerkennung fand.
3) Unverzichtbare Voraussetzung für die Kohärenz des ostfränkisch-deutschen Reiches waren die Prinzipien der Unteilbarkeit und Individualsukzession. Ihre Verankerung in der Hausordnung Heinrichs I. (929/930) ' verbunden mit der Weihe und öffentlichen Anerkennung des Nachfolgers ' bezeichnet daher einen Markstein der Verfassungsgeschichte des 10. Jahrhunderts. Die einmütige Wahl des designierten Thronanwärters (936) beruht auf den genannten Voraussetzungen. Bekanntlich hat uns Widukind mit der ihm eigenen kritischen Distanz über diese Ereignisse berichtet. Dabei zeigt sich der Chronist stets überzeugt vom providentiellen Charakter des Geschichtsverlaufes.
Alles in allem zeigen die Arbeiten von Keller eine deutliche Abwendung von dem klassischen Staatsmodell, wie es von der älteren Historiographie im Regelfall bevorzugt wurde. Die lange Zeit erstarrte Ottonenforschung scheint endlich wieder neue Impulse erhalten zu haben, die insbesondere die Magdeburger Ausstellung (2001) eindrucksvoll bündeln konnte.