Alltag im Mittelalter

Nach seinen anregenden Forschungen über König und Reich legt der Göttinger Historiker Ernst Schubert nunmehr eine Geschichte des Alltags im Mittelalter vor, womit er die beachtliche Spannweite seiner Forschungsinteressen eindrucksvoll unter Beweis stellt. Die auf der Grundlage intensiver Quellenstudien geschriebene Monographie liefert wertvolle und interessante Ergebnisse in einem Arbeitsfeld, das nach wie vor als Stiefkind der deutschen Mediaevistik gelten muß.

Zum einen thematisiert der Autor das natürliche Lebensumfeld des mittelalterlichen Menschen und damit unmittelbar verbunden die Ausgangs- und Rahmenbedingungen eines werdenden Umweltbewußtseins. Im Mittelpunkt des Interesses stehen somit der Umgang mit Wasser und Wald, Fauna und Flora sowie Fragen der Entsorgung. Das Problem der Genese der Kulturlandschaft im nordalpinen Europa wird in seiner ganzen Komplexität bewußt gemacht und in der geographischen, aber auch geschichtlichen Dimension erörtert. Dabei kann Schubert als bemerkenswertes Ergebnis kontinuierlicher und weitgehend anonymer Alltagstätigkeit die Rodung und Bebauung einer die Größe Englands deutlich übertreffenden Fläche nachweisen.

Neben der grundlegenden Frage nach dem Wandel der Einstellung zur Natur diskutiert Schubert in einem zweiten Teil Normen und Formen des menschlichen Zusammenlebens. Dabei spannt er den Bogen von basaler muttersprachlicher Kommunikation über sexuelle Praktiken bis zu Formen und Regeln des Familienlebens.
Die Problematik von Schuberts Monographie liegt offenkundig in der Unverbundenheit der beiden Hauptteile, die thematisch und inhaltlich völlig isoliert neben- und hintereinander stehen. Dies verweist zugleich auf die ungelöste Grundsatzfrage, wie Gegenstand und methodischer Ansatz der Alltagsgeschichte überzeugend zu definieren sind und sich entsprechend von Kulturgeographie, Ethnologie, historischer Soziologie oder den

Kommunikationswissenschaften abheben. Warum das weite Feld der Sepulkralkultur, des geographischen Weltbildes oder der Frömmigkeitspraxis weitgehend ausgespart bleiben, während dem erotischen Slang akribische Aufmerksamkeit gewidmet ist, erscheint keinesfalls plausibel oder gar stimmig begründet.

Obwohl die Erforschung der 'Conditio humana' ' zumal unter den Rahmenbedingungen der mittelalterlichen Jahrhunderte ' noch schwierige Aufgaben zu bewältigen hat, so wird doch eines schon heute erkennbar: Die Chance und Perspektive der Alltagsgeschichte besteht angesichts des drohenden Auseinanderbrechens der Sozialgeschichte in Randgruppenromantik einerseits bzw. Eliteglorifizierung andererseits in einem integrativen Ansatz und Zugriff, der die Untersuchungen auf eine breite natur- und kulturgeschichtliche Grundlage stellt und die Aufmerksamkeit auf langfristige Basisprozesse richtet.

Nur so kann eine verläßliche Plattform gewonnen werden, um die grundlegende Frage des sinkenden Kulturgutes, seiner Wanderungen und regionalen Differenzierungen sinnvoll zu diskutieren und das komplizierte Beziehungsgefüge materieller und geistiger Kultur weiter zu erhellen.

Wenn Schubert in seinem umfangreichen 'Literaturverzeichnis' Quelleneditionen (u.a. der MGH) und Sekundärliteratur in alphabetischer Reihenfolge auflistet, so bezeugt dieses fragwürdige Verfahren nur die dringende Notwendigkeit einer kritischen Quellenkunde zur Alltagsgeschichte, in der die Fülle der Sachüberreste, der kleinen literarischen Formen und aussagekräftigen Naturdenkmäler angemessen vorgestellt werden. Ohne jeden Zweifel sind systematische Quellensammlungen zur Alltagsgeschichte ein dringendes Desiderat der Forschung. Wie ernsthaft der deutschen Mediaevistik die Aufarbeitung der 'Geschichten von unten' tatsächlich ist, wird sich nicht zuletzt an diesem Kriterium ablesen lassen.